Selbstverantwortliche Menschen sind produktiver und gesünder, doch auch sie müssen geführt werden
Dass schlechte Führung krank machen kann, darüber sind sich wohl die meisten Menschen einig. Doch gilt auch das Umgekehrte? Gibt es einen gesundheitsfördernden Führungsstil? Und wenn ja, worin liegt das spezifisch Heilsame? Etwa in der schonenden Behandlung der Menschen? In der Zurückhaltung bei Kritik und Forderung? Weit gefehlt – die entscheidenden Gesundheits-Faktoren scheinen Freiheit und Selbstbestimmung zu sein.
Schon in den 50er Jahren wurde erkannt, dass die Entwicklung von Autonomie und Selbstverwirklichung ein tiefes Bedürfnis des Menschen ist, und dass „selbstverwirklichende Persönlichkeiten“ ein höheres Maß an Gesundheit, Energie und Lebensqualität haben. (Maslow, 1954) Vieles spricht dafür, dass dieses zunächst noch als elitär eingestufte Bedürfnis in unserer Wissensgesellschaft mittlerweile zu einem der zentralen Motivations- und Gesundheitsfaktor geworden ist.
Zu dieser Erkenntnis kommt auch die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie zum Thema Führung und Gesundheit: „Es kam heraus, dass die Autonomie, also der Freiheitsgrad in der persönlichen Arbeit, die größte Rolle dafür spielt, dass sich ein Mitarbeiter vom Unternehmen und der Führung in seiner Gesundheit unterstützt fühlt.“ (Kleinschmidt, 2013, S. 12)
Äußere und innere Freiheit
Damit sind wir bei der Frage, ob selbstbestimmte Menschen von sich aus auch die Leistungsziele der Organisation verfolgen, oder ob sie extrinsisch dazu bewegt werden müssen. Um das zu beantworten muss der Freiheitsbegriff etwas differenziert werden. Denn Freiheit meint nicht, tun zu können, was ich mag, sondern was ich für richtig halte. Diesen Freiheitsbegriff des deutschen Idealismus, der so grundlegend für jedes demokratische Zusammenleben in der offenen Gesellschaft ist, lässt Goethe seinen Wilhelm Meister erst am Ende seines Lebens erkennen:
„Als aber der Zirkel durchlaufen war, sah ich, dass das unschätzbare Glück der Freiheit nicht darin besteht, dass man alles tut, was man tun mag und wozu uns die Umstände einladen, sondern dass man das, ohne Hindernis und Rückhalt, auf dem geraden Wege tun kann, was man für recht und schicklich hält.“
Doppelte Unfreiheit
Dem Zustand der Freiheit steht demzufolge eine zweifache Unfreiheit entgegen: Erstens die äußere Unfreiheit, die durch Bevormundung den eigenen Willen und die Initiativkraft einschränkt, und zweitens die innere Unfreiheit, die uns durch egoistischen Impulse davon abhält, das zu tun, was wir selbst für richtig halten. Mit beiden Unfreiheiten hat verantwortliche Führung umzugehen.
Letztlich scheint es sinnvoll, eine mechanische Befolgung von Regeln und Anweisungen zugunsten der verantwortlichen Eigeninitiative zu überwinden. Denn die Situationen, für die es keine Regeln gibt, nehmen dramatisch zu, und die permanente Überwachung und Steuerung der Menschen durch Führungskräfte ist schlicht ineffizient.
Trotzdem ist mit der inneren Unfreiheit und mit der Fehlbarkeit des Menschen auf jeder Hierarchiestufe zu rechnen. Ein blindes Vertrauen darauf, dass wir immer tun würden „was recht und schicklich“ ist, hieße den Menschen überschätzen. Irrtümer und Individual- und Abteilungsegoismen sind eine Realität in jeder Organisation.
Führen mit Zielen – ein alter Hut?
Als Peter Drucker 1954 die ersten Umrisse des MbO formulierte, war er von der Vision getragen, dass durch eine offene und klare Abstimmung von Aufgaben und Zielen das „Führen durch Herrschen“ zugunsten eines „Führens durch Selbstkontrolle“ ersetzt werden könne. Der verantwortliche Mensch handle dann nicht „… weil ein anderer es verlangt, sondern weil er selbst überzeugt ist, dass es nötig ist – er handelt, anders ausgedrückt, als ein freier Mann.“ (Drucker, 1970, S.150)
Doch dieses Führen durch Selbstkontrolle war immer auf zwei Säulen gebaut, und das gilt bis heute: Es braucht die Korrektur und Abstimmung der eigenen Vorstellungen mit den betrieblichen Notwendigkeiten, und es braucht eine kritische Auswertung der Ergebnisse. Diese beiden Eckpfeiler des Führens – Ziele und Kontrolle – werden auch in einer Freiheitskultur nicht ausgehebelt, sie werden nur in einer würdigeren Weise gepflegt.
Führen in der offenen Wissensgesellschaft
Wer verstehen will, in welcher Weise autonome, selbstverantwortliche Menschen heute zu führen sind, kann sich Anleihen in der modernen Wissenschaftstheorie Karl Poppers holen. Wissen entsteht und optimiert sich durch zwei einfache Prozesse: Erstens durch mutige und kreative Hypothesenbildung, und zweitens durch die Kritik dieser Hypothesen. (Popper 1994)
Umgelegt auf die Arbeit in der Wissensgesellschaft bedeutet das: Erstens brauchen Mitarbeiter die Freiheit, eigene Lösungen für ihre alltäglichen Herausforderungen zu entwickeln – natürlich im Rahmen von abgestimmten Aufgaben und Zielen. Und zweitens muss jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin und vor allem jede Führungskraft sich dem Prozess des kritischen Auswertens und Hinterfragens stellen.
Zur Gesundheit, wie sie die WHO definiert, gehört nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch das körperliche, seelische und geistige Wohlbefinden. Dieses ist zugleich die Quelle der Vitalität, die Menschen in ihre Arbeit einbringen und somit ein wertvolles Gut für Individuen und Organisationen.
Durch ehrliche und wertschätzende Dialoge über Ziele und Ergebnisse werden zwei elementare Bedürfnisse geistig-seelischen Wohlbefindens befriedigt. Erstens gewinnen Mitarbeitende autonome Gestaltungsräume, und zweitens gewinnen sie innere Sicherheit, weil sie wissen, was von ihnen erwartet wird und wann sie erfolgreich sind.
In der eingangs erwähnten Studie werden genau diese zwei Faktoren von Mitarbeitern als wichtigste Unterstützung ihrer Gesundheit durch die Führung bezeichnet: erstens das Schaffen autonomer Gestaltungsräume und zweitens Transparenz über Strategien und Erwartungen des Unternehmens. (Kleinschmidt, 2013)
Ist Kontrolle entwürdigend?
Der Dünkel, dass Kontrolle entwürdigend sei, hat nicht nur mit schlecht geführten Führungsgesprächen zu tun, sondern manchmal auch mit dem illusionären Selbstbild, dass man selber frei von Irrtum und Egoismus sei und zu sein habe. Nein – niemand muss frei von diesen Mängeln sein und kann es auch nicht! Deshalb ist konstruktive Kritik gerade in einer Freiheitskultur so notwendig.
Ob diese Aufgabenklärung und Kritik nun durch respektvolle Vorgesetzte geübt wird, die fähig sind, die Würde auch in einem fehlbaren Menschen zu sehen, oder ob wir künftig mehr zu kollegialen Formen von Abstimmung und Kritik finden werden, hängt vom Mut und der Innovationsbereitschaft der obersten Führung ab. Beide Modelle erlauben, dass selbstbestimmte Menschen darin wirken, wobei in der kollegialen Variante sicher die Zukunft liegt.
Das Rad muss dafür allerdings nicht neu erfunden werden, denn die klassischen Führungs- und Motivationstheorien von Maslow oder Peter Drucker bieten erstaunlich zeitgemäße Perspektiven, wenn sie von ihrer Banalisierung befreit und wirklich erstgenommen werden.
Ermutigend ist jedenfalls, dass finanzieller Unternehmenserfolg und Gesundheitsbedürfnisse der Mitarbeitenden kein Widerspruch sind, denn Unternehmen mit einer kooperativen Führung, die für Transparenz und Autonomie sorgen, sind zugleich diejenigen, die die höchsten Umsatzrenditen haben. (Kleinschmidt, 2013)
Drucker, Peter: Die Praxis des Management, Düsseldorf 1970 (1954).
Kleinschmidt, Carola: „Kein Stress mit dem Stress – eine Handlungshilfe für Führungskräfte“, Güthersloh 2013.
Maslow, Abraham: Motivation und Persönlichkeit, Olten 1977 (1954).
Popper, Karl: Alles Leben ist Problemlösen, München 1994.
(erschienen als print in den „Trigon-Themen 1/2015“)