Über Mut und Aufklärung

Um aufgrund von Argumenten umzudenken, braucht es einen starken und aufrechten Charakter. Das redliche Denken in der Wissenschaft wäre ein Beispiel dafür, also eine These auf Basis von logischer und/oder empirischer Kritik loszulassen, obwohl ich vorher daran geglaubt habe. Dafür ist die redliche und selbstlose Wahrheitssuche Voraussetzung. Allerdings wurde der Wahrheitsbegriff durch den Relativismus, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit habe etc., sehr verwässert. Die wissenschaftliche Wahrheitssuche durch Argumente ist dann nicht mehr möglich, an deren Stelle ist die Reputation von Autoritäten getreten.

Karl Popper hat versucht klarzulegen, dass wir immer redlich nach der Wahrheit suchen müssen, und dass wir nie ganz sicher sein dürfen, sie gefunden zu haben. Dafür braucht es aber eben diesen aufrechten und starken Charakter, der eine Position zugunsten einer plausibleren aufgibt. Offenbar werden wir durch einen akademischen Abschluss allein zu dieser redlichen Wahrheitssuche noch nicht befähigt.

Eine bedenkenswerte Erklärung dafür, warum wir durch Argumente meist nicht umdenken können, liefert die Psychoanalyse. Wer als Kind in seinen Bedürfnissen nicht respektiert wurde, lernt sich an die Wünsche der Bezugspersonen anzupassen, anstatt eine eigene Haltung einzunehmen und eine individuelle Identität auszubilden. Es ist zu vermuten, dass auch heute noch 2/3 aller Probanden des Milgram Experiments den Stromknopf drücken würden, wenn eine Autorität es verlangt, obwohl der Proband schon vor Schmerz schreit. Einige erschütternde Thesen des Psychoanalytikers Arno Gruen verdeutlichen diese Dynamik:

„Wir, die wir uns für so individualistisch halten, verwechseln die Konstruktion einer persona mit der eigenständigen Entwicklung eines Selbst. …Korrektes Verhalten erzeugt den Anschein von Verantwortung, ist aber von der Übernahme von Verantwortung weit entfernt. …Es ist die Nicht-Anerkennung der empathischen Wahrnehmungen des Kindes und seiner Bedürfnisse während der ersten Monate seines Lebens, die dazu führen, dass es keine eigene Identität entwickeln kann. …Solch eine fremdbestimmte Identität, die aus Introjekten besteht, fühlt sich bedroht, wenn sie in Frage gestellt wird…

Tatsache ist jedoch, dass alltägliche Verleumdungen normaler Bestandteil unserer Kultur sind. Der Wahrheit ins Auge zu blicken, fällt uns schwer. Wir sind gefangen in der Angst, zu sehen, was wirklich ist….Wir stufen diejenigen Menschen als normal ein, die sich der allgemeinen Verleugnung anpassen und so in unserer Kultur erfolgreich operieren. …Wer ergründen will, warum Menschen gegen ihre eigenen Interessen kämpfen, warum sie ihre eigene Versklavung befördern, muss sich zuerst dem eigenen Gehorsam stellen. Wenn aber das eigene Selbst zur Bedrohung geworden ist, gelingt diese Konfrontation nicht. Die lauernde Angst mutiert zu einem Streben nach Sicherheit. Und genau diese Sicherheit verspricht der Gehorsam.“ (Arno Gruen, „Wider den Gehorsam“ 2014)

Ein Indiz dafür, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die auf Basis von Argumenten nicht umdenken können, ist deren Sich-Berufen auf Autoritäten. Für solche Menschen zählt vor allem, ob eine Aussage von einer geachteten Person oder Instanz geäußert wurde, oder von einer mit zweifelhaftem Ruf. Was diese Menschen nicht bemerken ist, dass sie sich vielleicht zu wenig ihres eigenen Verstandes bedienen, und dass ihr Bild von geachteten und zweifelhaften Personen und Instanzen zunehmend die Folge von gezielt inszenierten Narrativen ist.

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Immanuel Kant, „Was ist Aufklärung“)

Was tut ein auf Autorität ausgerichteter Mensch, der durch Argumente unter Druck kommt? Er sucht bei anderen Argumenten Zuflucht, die ihn doch bestätigen, in der Wissenschaftstheorie ad-hoc-Hypothesen genannt. Und er verdrängt diejenigen, die ihn ins Wanken bringen. Es geht darum, das innere Wanken zu verhindern, deshalb lassen wir uns durch Argumente so selten überzeugen. Es fehlt nicht an Verstand, aber an Mut und an innerer Stärke.

Woher kommt dieser Mut? Aus einem Selbstwert, der nicht immer Applaus von allen Seiten braucht, und deshalb auch nicht so schnell erpressbar ist durch Nicht-Zustimmung und Liebesentzug. Es braucht einen Charakter, der in sich selbst ruht, der seine Nächsten liebt, wie sich selbst. Das verbreitete Narzissmus-Bashing schüttet in dieser Hinsicht das Kind mit dem Bad aus. Ohne ein gewisses Maß an Selbstwert und Mut gibt es keine Kreativität, keine Originalität, kein Unternehmertum und kein zufriedenes Leben.

Meine persönliche Strategie zur Stärkung meines Mutes ist die geistige Übung und Erfahrung. Nach vielen Jahren der Übung gelingt es mir, meditativ in einen hellen und warmen Zustand zu finden, und diesen auch zu halten, wenn ich Konkretes und auch Besorgniserregendes in meinen Bewusstseinsraum hereinnehme. Unabhängig von Kindheitstraumata meine ich dadurch meinen innerer Mut verstärken zu können.

Ich kenne aber auch Agnostiker, die diesen Mut haben, einfach weil sie ihren Prinzipien treu sind und ihr Fähnchen nicht gleich in den Wind hängen, wenn es unangenehm für sie wird. Ich habe höchste Achtung vor solchen Menschen. Welche Strategien es noch gibt, um den inneren Mut und Selbstwert zu stärken, ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns stellen sollten.

Aktuelle Krisen zeigen uns deutlich, dass wir als Gesellschaft nicht so aufgeklärt sind, wie wir meinen. Verstand ist mehr da, denn je. Aber Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, und zu eigenen, vielleicht von der Mehrheit abweichenden Schlüssen und Haltungen zu kommen, dieser Mut ist nicht halb so verbreitet wie der Verstand.

Die Aufklärung mag den Glauben an die Kirche und die Monarchie erschüttert haben. Der Glaube ist aber nicht verschwunden, sondern heftet sich heute an eine neue Kirche, an neue Autoritäten, nämlich an die Medien, die Experten und die Politiker. Für eine Demokratie kein ungefährlicher Zustand. Karl Popper rechnete in seiner „Offenen Gesellschaft“ noch mit einigen Rückfällen der modernen Demokratien in geschlossene und autoritäre Staatsformen.

Grundlage für die offene Gesellschaft und ebenso für offene Unternehmenskulturen ist der freie und verantwortliche Mensch und sein genuines Selbstwertgefühl. Unsere Erziehungs- und Bildungsprozesse endlich konsequent darauf auszurichten, wie es schon so viele forderten, ist wieder einmal das Gebot der Stunde.

Veröffentlicht von

Herbert Salzmann

Gesellschafter der Trigon Entwicklungsberatung, herbert.salzmann.trigon.at. Geb. 1959 in Vorarlberg, Lehre als Vermessungstechniker, 7 Jahre Techniker, daneben Abendgymnasium. Geistes- und sozialwissenschaftliche Studien in Innsbruck und Freiburg. Ab 1990 Ausbildung in Organisationsentwicklung und Managementtraining durch Jack F.Moens / NPI Holland. Beratungserfahrung seit 1990, diverse Weiterbildungen in OE, Coaching und Wirtschaftsmediation. Lehraufträge an der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Führungsseminare, Führungscoaching und Transformation von Führungskulturen. Organisationsentwicklung und Gestaltung von Lernenden Organisationen. Diverse Veröffentlichungen und Vorträge.