Emergenz in der Beratung

Emergente Beratungsprozesse überraschen in jeder Phase mit Einsichten und Lösungen, die nicht vorhersehbar waren. Dafür braucht es neue Formen der Beauftragung sowie besondere Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater.

Der Begriff Emergenz bezeichnet in einem System das Auftauchen von Ereignissen. Beispiele sind das Verhalten von Schwärmen und Netzwerken, Verkehrstaus etwa, oder gesellschaftliche Ereignisse wie der Mauerfall und die Lautverschiebungen in einer Sprache.
Emergente Phänomene sind nicht bewusst geplant und gesteuert. Sie ergeben sich zwar aus dem Zusammenspiel der Elemente, sind aber nicht auf einzelne Verursacher rückführbar. In sozialen Systemen gibt es immer Denk- und Handlungsweisen, die nicht bewusst eingebracht wurden, sondern emergieren. Doch das Thema ist nicht ganz neu.

Klangfigur nach Ernst Chladni (1756-1827):
Sand ordnet sich auf einer Metallplatte, mittels Geigenbogen angestrichen

Henry Mintzberg hinterfragte schon 1978 rational geplante Strategieprozesse und stellte diesen emergente Strategien gegenüber, die plötzlich auftauchen und dennoch realisiert werden. (1)

Und schon 1903 hatte Emile Durkheim die Emergenz gar zum zentralen Thema der Sozialwissenschaften erklärt. Durkheim stellte fest, dass Normen, Werte und Ziele in Gesellschaften oft nicht durch Veranlassung einzelner Akteure zustande kommen, sondern aus dem Zusammenspiel emergieren. (2) Emergenz ist also einerseits eine Selbstverständlichkeit, mit der alle unsere Lern- und Entwicklungsbestrebungen in Organisationen durchsetzt sind. In jedem Beratungsgespräch emergieren z.B. neue Einsichten und Willensimpulse, die nicht vorhersehbar sind. Für längere Entwicklungsprozesse hingegen ist Emergenz noch eine Herausforderung. In jeder Phase können neue Einsichten auftauchen, nicht nur in der Diagnosephase. Und neue Ziele und Handlungsmöglichkeiten emergieren ebenfalls jederzeit, nicht nur in Zukunftsgestaltungsprozessen. Diese schwer planbaren aber relevanten Ereignisse verlangen dann eine flexible Umgestaltung des Gesamtprozesses. Soll der Entwicklungsprozess kreativ und wirklichkeitsorientiert sein, muss er bildsam bleiben.

Ein Beispiel: In einem global tätigen Interessensverband wurde ein Jahr lang über die Neuausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit nachgedacht. Experten wurden eingeladen, die Attraktivität der Wort-Bild-Marke wurde überprüft, drei Szenarien standen letztlich zur Wahl. Bei der Letztentscheidung sollten die unterschiedlichen Positionen und die aufkommenden sozialen Spannungen in einem gemeinsamen Commitment zusammengeführt werden. Während dieses letzten Entscheidungsprozesses emergierte die alles verändernde Einsicht, dass die sinkende Markenattraktivität, aber auch die  unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen ihre tiefere Ursache darin hatten, dass in der Organisation eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Leistungsprozessen bestand, was bei der Erstdiagnose nicht ins Bewusstsein gekommen war. Die Leistungsprozesse waren zu wenig auf den Zweck (Purpose) des Verbandes ausgerichtet. Also wurde das Thema dieser letzten Phase geändert und die künftigen Leistungsprozesse konnten schnell und klar skizziert werden. Die Folge war nur, dass nun die Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr zentral war. Der Entwicklungsprozess verlagerte sich nach einem Jahr weg vom Marketing hin zu den Leistungsprozessen.

Besonders in unserer Zeit, in der Dynamik und Komplexität, aber auch Fragilität und  Disruption eine so große Rolle spielen, könnten Entwicklungsprozesse konsequenter auf Emergenz ausgerichtet werden. Eine Hürde dafür ist die berechtigte Erwartung der Kunden, dass Entwicklungsprozesse vorhersehbar und kalkulierbar sind. Doch emergente Prozesse können sich sowohl unversehens verkürzen als auch verlängern, wenn sie auf weitere Bereiche und Themen ausgedehnt oder verlagert werden. Emergente Beratung verlangt deshalb bildsame Anbahnungs- und Designprozesse, die freilassend gemeinsam mit den Kunden gestaltet werden.

Folgende drei Merkmale solcher Anbahnungs- und Designprozesse können zunehmend beobachtet werden: Erstens werden mehr die Intentionen, Bedürfnisse und Potenziale der Kunden fokussiert als fixe Zielvorstellungen, damit auch das Überraschende Platz haben kann. Zweitens sind generative, Ergebnis- offene  Gruppendialoge eine zentrale Methode des Entwicklungsprozesses. In solchen Dialogen können Einsichten und Willensimpulse emergieren, die weder
für den Auftraggeber noch für Beraterinnen und Berater vorhersehbar waren. Und drittens muss den Kunden ehrlich gesagt werden, dass eine laufende flexible Umplanung des Prozesses die geeignetste Form der gemeinsamen Steuerung ist.

Zu den Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater zählt erstens, dass sie Vertrauensbeziehungen zu Kunden aufbauen können, die über das übliche Maß hinausgehen und an die Stelle des sicheren Halts durch einen vorgefassten Plan treten. Zweitens, die Fähigkeit emergente Dialogatmosphären zu schaffen, in denen sich die betroffenen Menschen schnell öffnen und ehrlich aussprechen.

Weiters gehört daran erinnert, dass die beratende Person jene ist, die am schnellsten und am meisten lernen muss und mit dem eigenem Nichtwissen konstruktiv umgehen können muss. Jegliches Überspielen von ohnehin unvermeidlicher Unsicherheit, jegliches Vorspiegeln von angelerntem Scheinwissen untergräbt die notwendige Ehrlichkeit und das notwendige Vertrauen. Und viertens braucht die beratende Person die Fähigkeit, sich gemeinsam mit den Kunden bei der Prozesssteuerung überraschen zu lassen, ins Offene zu treten und wiederholt umzuplanen. Dafür braucht es einerseits Selbstvertrauen und Erfahrung, andererseits dürfen Beratende nicht Gefangene der eigenen Konventionen werden.

1 Mintzberg, H.: Patterns in Strategy Formation, Mai 1978; Management Science, Vol 24, No. 9, S. 934-948. Zit nach http://www.wirtschaftslexikon24.com „Emergente Strategien“.
2 Durkheim, E.: Erziehung, Moral und Gesellschaft (1903), stw 487 1984, Seite 94 ff.

ursprünglich erschienen in Trigon Themen 3/2021 (mit Bildern)

Woher kommen die neuen Ideen?

Wir können durch Üben und Nachahmen bewährter Methoden zwar hochprofessionell werden, innovativ sind wir deswegen aber noch nicht unbedingt. Nur manchen Menschen scheint es zu gelingen, in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich immer wieder Neuschöpfungen hervorzubringen. Was unterscheidet solche schöpferischen Menschen von anderen?

Eine Antwort findet sich möglicherweise in der Kunst, denn in unserer modernen Gesellschaft ist es besonders der Typus des Künstlers, dem die Fähigkeit der laufenden Neuschöpfung zugeschrieben wird. Insbesondere die Epoche der klassischen Avantgarde (ca. 1905 bis 1933) schien gesegnet mit Neuschöpfern aller Art. Und hier lässt sich eine interessante Spur aufnehmen zu der Frage, worin denn das Neue bestehe und wie es hervorgebracht werden kann.

Avantgarde: Das Neue ist das Ursprüngliche in zeitgemäßer Form

Es muss noch heute erstaunen, dass in dem von Franz Marc und Wassily Kandinsky 1911 herausgegeben Almanach „Der Blaue Reiter“ neben den revolutionärsten abstrakten Malereien auch alte Illustrationen aus Grimms Märchen und laienhafte religiöse Glasmalereien aus dem bäuerlichen Umfeld in Bayern gezeigt und gewürdigt wurden. Diese radikalen Erneuerer, die sich vehement gegen den substanzlosen Manierismus und Historizismus ihrer Zeit wandten, schätzten gleichzeitig solche scheinbar biedere und naive Kunst, weil sie ihnen vorbildlich „echt“ erschien. Das Neue war für die Avantgardisten also nichts anderes als das Echte und Ursprüngliche, das in jeder Zeit seine angemessene Form finden muss.

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Wassily Kandinsky (Foto: open culture)

Was ist nun dieses Ursprüngliche für einen arbeitenden Menschen und was ist es in einer Organisation? Eine einfache Antwort finden wir in der Studie „Built to Last“ von Collins und Porras. Langfristige Bestperformer sind bereit, fast alles zu verändern: ihre Methoden, Strategien, Strukturen, Produkte. Was diese Unternehmen aber möglichst dauerhaft bewahren, ist ihr Wertekern und ihre Mission. Die Mission ist das Echteste und Ursprünglichste eines Unternehmens und auch einer leidenschaftlich arbeitenden Person, im Sinne der genuinen Quelle der Motivation. Von dieser Mission her kann Personalentwicklung die Brücke zur Innovationsfähigkeit schlagen.

Erfolgsorientierung als Neurose

Auch der Therapeut Viktor Frankl betont die Bedeutung einer Mission, eines Sinns, oder schlicht einer Aufgabe. Sein Ansatz beim Thema sexuelle Störungen war, dass letztere häufig durch eine Fixierung auf das Lusterlebnis zustande kommen. „Je mehr es einem um die Lust geht, umso mehr vergeht sie einem auch schon […]  Lust stellt sich jeweils von selber ein – und zwar mit dem Erreichen eines Zieles; Lust ist Folge – aber nicht selber Ziel.“ Umgelegt auf den beruflichen Erfolg heißt das, „wer Erfolg haben will, dem entgeht er auch schon“, oder „wer unbedingt innovativ sein will, dem fällt nichts ein“. Stattdessen sollten wir leidenschaftlich einer sinnvollen Aufgabe nachgehen, dann ergibt sich Erfolg, dann entstehen auch neue Ideen.

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Diese Thesen werden von Collins und Porras in ihren Untersuchungen zu den langfristig erfolgreichsten Unternehmen bestätigt. Diesen ist nämlich gemeinsam, dass sie sich nicht auf den Erfolg, sondern auf ihre Mission konzentrieren. So meinte etwa der Pharma­pionier Georg Merck in den 20er Jahren: „Medikamente sind für die Patienten da, nicht um Gewinne zu machen. Die Gewinne kommen von selbst.“ (zit. nach Collins & Porras).

Ein spektakuläres Beispiel dafür lieferte auch Henry Ford 1916. „Meiner Meinung nach sollten wir nicht versuchen … übermäßige Gewinne zu erwirtschaften […] Ich halte es für besser, viele Autos mit einer niedrigen Gewinnspanne zu verkaufen. Denn so kann sich ein größerer Kreis von Personen ein Auto leisten und die Freude am Fahren erleben. Und außerdem werden auf diese Weise viele gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Dies sind meine beiden Lebensziele.“ 1908-1916 senkte Ford die Preise um 58% trotz Wartelisten, trotz Klagen der eigenen Aktionäre, zugleich verdoppelte er die Löhne. Das Wallstreet Journal schrieb damals, „ein schwerer ökonomischer Fehler, wenn nicht gar ein Verbrechen“ (zit. nach Collins & Porras).

Wir können daraus lernen, dass wir die wichtigen Dinge im Leben – Glück, Liebe, Freude oder Erfolg – nicht gezielt herstellen können. Wir können zwar etwas dafür tun, aber letztlich ergeben sie sich, erfolgen, fallen uns zu. Wir brauchen also eine offene, spielerische, experimentierfreudige Haltung in unserer Arbeit, damit neue Einfälle Platz haben.

Welche Schlüsse können aus diesen Gedanken für eine systematische Personalentwicklung gezogen werden?

  1. Jeder Mensch sollte seine wenigen zentralen Aufgaben gut kennen und mit anderen abgestimmt haben. Einfache Aufgabenbeschreibungen sind dafür brauchbarer als komplizierte Stellenbeschreibungen.
  2. Führungskräfte sollten wissen, dass es ihre Hauptaufgabe ist, für klare und abgestimmte Aufgaben und Ziele zu sorgen, um die Menschen dann frei und selbstgesteuert ihre Arbeit tun zu lassen. Darin können Führungskräfte geschult werden.
  3. Führungskräfte sollten wissen, dass direktives Verhalten nicht nur der Motivation schadet, sondern vor allem der Kreativität und der Innovation. Durch Feedbacks von Mitarbeitenden können solche Führungskräfte sichtbar werden, um sie dann durch Führung und Schulung zu veranlassen, dieses Verhalten zu ändern.
  4. Voraussetzung für alle diese Punkte ist es, dass die Organisation eine Mission in der Gesellschaft verfolgt, und nicht nur auf Gewinn ausgerichtet ist.

 

Literatur:

Collins, J. & Porras, J. (1994). Built to Last – Successfull Habits of Visionary Companies. New York.

Frankl V. (1975). Der leidende Mensch – Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. München, Zürich.

Kandinsky W. & Marc F. (1911). Der Blaue Reiter.

(erschienen als print in den „Trigon-Themen 3/2016 – Innovationsfaktor Personalentwicklung“)

Führungsstil und Gesundheit

Selbstverantwortliche Menschen sind produktiver und gesünder, doch auch sie müssen geführt werden

Dass schlechte Führung krank machen kann, darüber sind sich wohl die meisten Menschen einig. Doch gilt auch das Umgekehrte? Gibt es einen gesundheitsfördernden Führungsstil? Und wenn ja, worin liegt das spezifisch Heilsame? Etwa in der schonenden Behandlung der Menschen? In der Zurückhaltung bei Kritik und Forderung? Weit gefehlt – die entscheidenden Gesundheits-Faktoren scheinen Freiheit und Selbstbestimmung zu sein.

Schon in den 50er Jahren wurde erkannt, dass die Entwicklung von Autonomie und Selbstverwirklichung ein tiefes Bedürfnis des Menschen ist, und dass „selbstverwirklichende Persönlichkeiten“ ein höheres Maß an Gesundheit, Energie und Lebensqualität haben. (Maslow, 1954) Vieles spricht dafür, dass dieses zunächst noch als elitär eingestufte Bedürfnis in unserer Wissensgesellschaft mittlerweile zu einem der zentralen Motivations- und Gesundheitsfaktor geworden ist.

Zu dieser Erkenntnis kommt auch die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie zum Thema Führung und Gesundheit: „Es kam heraus, dass die Autonomie, also der Freiheitsgrad in der persönlichen Arbeit, die größte Rolle dafür spielt, dass sich ein Mitarbeiter vom Unternehmen und der Führung in seiner Gesundheit unterstützt fühlt.“ (Kleinschmidt, 2013, S. 12)

Äußere und innere Freiheit

Damit sind wir bei der Frage, ob selbstbestimmte Menschen von sich aus auch die Leistungsziele der Organisation verfolgen, oder ob sie extrinsisch dazu bewegt werden müssen. Um das zu beantworten muss der Freiheitsbegriff etwas differenziert werden. Denn Freiheit meint nicht, tun zu können, was ich mag, sondern was ich für richtig halte. Diesen Freiheitsbegriff des deutschen Idealismus, der so grundlegend für jedes demokratische Zusammenleben in der offenen Gesellschaft ist, lässt Goethe seinen Wilhelm Meister erst am Ende seines Lebens erkennen:

„Als aber der Zirkel durchlaufen war, sah ich, dass das unschätzbare Glück der Freiheit nicht darin besteht, dass man alles tut, was man tun mag und wozu uns die Umstände einladen, sondern dass man das, ohne Hindernis und Rückhalt, auf dem geraden Wege tun kann, was man für recht und schicklich hält.“

Doppelte Unfreiheit

Dem Zustand der Freiheit steht demzufolge eine zweifache Unfreiheit entgegen: Erstens die äußere Unfreiheit, die durch Bevormundung den eigenen Willen und die Initiativkraft einschränkt, und zweitens die innere Unfreiheit, die uns durch egoistischen Impulse davon abhält, das zu tun, was wir selbst für richtig halten. Mit beiden Unfreiheiten hat verantwortliche Führung umzugehen.

Letztlich scheint es sinnvoll, eine mechanische Befolgung von Regeln und Anweisungen zugunsten der verantwortlichen Eigeninitiative zu überwinden. Denn die Situationen, für die es keine Regeln gibt, nehmen dramatisch zu, und die permanente Überwachung und Steuerung der Menschen durch Führungskräfte ist schlicht ineffizient.

Trotzdem ist mit der inneren Unfreiheit und mit der Fehlbarkeit des Menschen auf jeder Hierarchiestufe zu rechnen. Ein blindes Vertrauen darauf, dass wir immer tun würden „was recht und schicklich“ ist, hieße den Menschen überschätzen. Irrtümer und Individual- und Abteilungsegoismen sind eine Realität in jeder Organisation.

Führen mit Zielen – ein alter Hut?

Als Peter Drucker 1954 die ersten Umrisse des MbO formulierte, war er von der Vision getragen, dass durch eine offene und klare Abstimmung von Aufgaben und Zielen das „Führen durch Herrschen“ zugunsten eines „Führens durch Selbstkontrolle“ ersetzt werden könne. Der verantwortliche Mensch handle dann nicht „… weil ein anderer es verlangt, sondern weil er selbst überzeugt ist, dass es nötig ist – er handelt, anders ausgedrückt, als ein freier Mann.“ (Drucker, 1970, S.150)

Doch dieses Führen durch Selbstkontrolle war immer auf zwei Säulen gebaut, und das gilt bis heute: Es braucht die Korrektur und Abstimmung der eigenen Vorstellungen mit den betrieblichen Notwendigkeiten, und es braucht eine kritische Auswertung der Ergebnisse. Diese beiden Eckpfeiler des Führens – Ziele und Kontrolle – werden auch in einer Freiheitskultur nicht ausgehebelt, sie werden nur in einer würdigeren Weise gepflegt.

Führen in der offenen Wissensgesellschaft

Wer verstehen will, in welcher Weise autonome, selbstverantwortliche Menschen heute zu führen sind, kann sich Anleihen in der modernen Wissenschaftstheorie Karl Poppers holen. Wissen entsteht und optimiert sich durch zwei einfache Prozesse: Erstens durch mutige und kreative Hypothesenbildung, und zweitens durch die Kritik dieser Hypothesen. (Popper 1994)

Umgelegt auf die Arbeit in der Wissensgesellschaft bedeutet das: Erstens brauchen Mitarbeiter die Freiheit, eigene Lösungen für ihre alltäglichen Herausforderungen zu entwickeln – natürlich im Rahmen von abgestimmten Aufgaben und Zielen. Und zweitens muss jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin und vor allem jede Führungskraft sich dem Prozess des kritischen Auswertens und Hinterfragens stellen.

Zur Gesundheit, wie sie die WHO definiert, gehört nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch das körperliche, seelische und geistige Wohlbefinden. Dieses ist zugleich die Quelle der Vitalität, die Menschen in ihre Arbeit einbringen und somit ein wertvolles Gut für Individuen und Organisationen.

Durch ehrliche und wertschätzende Dialoge über Ziele und Ergebnisse werden zwei elementare Bedürfnisse geistig-seelischen Wohlbefindens befriedigt. Erstens gewinnen Mitarbeitende autonome Gestaltungsräume, und zweitens gewinnen sie innere Sicherheit, weil sie wissen, was von ihnen erwartet wird und wann sie erfolgreich sind.

In der eingangs erwähnten Studie werden genau diese zwei Faktoren von Mitarbeitern als wichtigste Unterstützung ihrer Gesundheit durch die Führung bezeichnet: erstens das Schaffen autonomer Gestaltungsräume und zweitens Transparenz über Strategien und Erwartungen des Unternehmens. (Kleinschmidt, 2013)

Ist Kontrolle entwürdigend?

Der Dünkel, dass Kontrolle entwürdigend sei, hat nicht nur mit schlecht geführten Führungsgesprächen zu tun, sondern manchmal auch mit dem illusionären Selbstbild, dass man selber frei von Irrtum und Egoismus sei und zu sein habe. Nein – niemand muss frei von diesen Mängeln sein und kann es auch nicht! Deshalb ist konstruktive Kritik gerade in einer Freiheitskultur so notwendig.

Ob diese Aufgabenklärung und Kritik nun durch respektvolle Vorgesetzte geübt wird, die fähig sind, die Würde auch in einem fehlbaren Menschen zu sehen, oder ob wir künftig mehr zu kollegialen Formen von Abstimmung und Kritik finden werden, hängt vom Mut und der Innovationsbereitschaft der obersten Führung ab. Beide Modelle erlauben, dass selbstbestimmte Menschen darin wirken, wobei in der kollegialen Variante sicher die Zukunft liegt.

Das Rad muss dafür allerdings nicht neu erfunden werden, denn die klassischen Führungs- und Motivationstheorien von Maslow oder Peter Drucker bieten erstaunlich zeitgemäße Perspektiven, wenn sie von ihrer Banalisierung befreit und wirklich erstgenommen werden.

Ermutigend ist jedenfalls, dass finanzieller Unternehmenserfolg und Gesundheitsbedürfnisse der Mitarbeitenden kein Widerspruch sind, denn Unternehmen mit einer kooperativen Führung, die für Transparenz und Autonomie sorgen, sind zugleich diejenigen, die die höchsten Umsatzrenditen haben. (Kleinschmidt, 2013)

Drucker, Peter: Die Praxis des Management, Düsseldorf 1970 (1954).

Kleinschmidt, Carola: „Kein Stress mit dem Stress – eine Handlungshilfe für Führungskräfte“, Güthersloh 2013.

Maslow, Abraham: Motivation und Persönlichkeit, Olten 1977 (1954).

Popper, Karl: Alles Leben ist Problemlösen, München 1994.

(erschienen als print in den „Trigon-Themen 1/2015“)

Ist Konfrontation in der Führungsarbeit notwendig?

Konfrontation ist ein zwiespältiges Prinzip. Einerseits fürchten wir sie, weil sie verärgert und beleidigt. Andererseits verdanken wir der Konfrontation wohl jeglichen Fortschritt in der Zivilisation, so Karl Popper. Konfrontation hat also eine Schattenseite, welche wir durchaus im Management-Alltag erleben müssen. Wenn zum Beispiel eine Führungskraft unter Druck gerät und um ihren Erfolg fürchtet, können destruktive Konfrontationen die Folge sein: „Haben Sie das immer noch nicht kapiert?“, „Wie oft muss ich es Ihnen denn noch sagen?“. Allen destruktiven Konfrontationen, sei es im Streit zwischen Nationen, sei es in der Familie oder im Führungsalltag, ist eines gemeinsam: sie werten den anderen Menschen ab, durch Demütigung und Entwürdigung.

Die Lichtseite der Konfrontation ist uns nicht so vertraut, weil sie nicht so auffällig und viel-leicht auch seltener zu erleben ist. Die Konfrontation im konstruktiven Sinne entspringt der geistigen Grundoperation schlechthin, der Unterscheidung. In Momenten, in denen wir den Mut zur Unterscheidung aufbringen und dies ausdrücken, ist das Bessere der Feind des Guten, oder das Ideal der Feind des Vorgefundenen: „Ich denke, das neue Gerät sollte weit einfacher zu bedienen sein“, „Wie zufrieden sind sie selber mit Ihrem Verhalten in dieser Sache?“ Solche Konfrontationen erzeugen Unterschiede und Spannungen, die Entwicklungen auslösen. Immer, wenn in Organisationen der Mut aufgebracht wird, über Wertvorstellungen und Ziele offen zu sprechen, entsteht diese Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Sie entsteht auch, wenn wir den Mut aufbringen unsere Unzufriedenheit mit Leistungsergebnissen und Verhaltensweisen auszudrücken, seien es idealerweise die eigenen, seien es jene unserer Mitarbeitenden.

Der Knackpunkt konstruktiver Konfrontationen ist, dass wir sie aus einer Haltung heraus üben, die nicht zugleich als abwertend und entwürdigend erlebt wird. Denn solche Abwertung verstößt gegen das Grundgesetz der Menschlichkeit, wie es in den allgemeinen Menschenrechten und nahezu jeder aufgeklärten Verfassung formuliert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ lautet beispielsweise der Artikel 1 des deutsches Grundgesetzes. Der Mensch ist also mehr als eine Ressource, und sei es auch „die wichtigste“, wie wir es in vielen Leitbildern immer noch lesen müssen.

Das Verletzen der Würde rächt sich immer, so meine Erfahrung aus zahllosen Analysen missglückter Führungssituationen. Der Schaden von respektloser Behandlung von Menschen ist meist nicht unmittelbar zu sehen. Er zeigt sich in abnehmender Loyalität und Achtung gegenüber den Führungskräften und der Organisation als ganzer. Diese mangelnde Loyalität schwächt die Organisation und die Menschen ungemein, ist aber so verbreitet, dass sich viele damit abgefunden haben.

Aus diesem Grund ist es verständlich, dass viele Mitarbeitende und Führungskräfte auf Konfrontationen verzichten, obwohl diese für Qualität und Effizienz wertvoll wären. Den Ausweg aus diesem Dilemma finden wir, indem wir noch besser lernen „unsere Feinde zu lieben“. Diese Verhaltensempfehlung der Bibel hat zunächst nichts mit Religion zu tun, sondern beschreibt präzise die zentrale soziale Kompetenz in einer sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft. Anstatt auf eine Konfrontation zu verzichten, weil sie die Beziehungsqualität bedroht, sollte die Konfrontation in wertschätzender Weise ausgeübt werden.

Als Quellen der Wertschätzung sind 1.) persönliche „Sympathien“ zu wenig, denn Führungskräfte müssen mit ganz verschiedenen Menschen zurechtkommen. Eine schon brauchbarere Quelle für Wertschätzung ist 2.) die „Funktion“, die ein Mensch im organisationalen Kontext erfüllt. Kritik und Leistungsforderung kann mit einer aufmerksamen Würdigung von Stärken und Leistungen des Gegenübers kombiniert werden, dann sind sie leichter annehmbar und können zu einem starken Commitment führen.

Doch selbst in Situationen, wo eine Trennung notwendig ist, weil Leistungen und Verhaltensweisen für die Organisation dauerhaft nicht passen, muss Wertschätzung aufgebracht werden können, nämlich in Form 3.) der Würdigung der „Person“. Immanuel Kant sagt, „der Mensch ist nie nur Mittel, er ist immer schon Zweck in sich“, was so viel heißt, wie: „Auch wenn Sie nicht nützlich für uns sind, haben Sie Respekt verdient“. Gelingt einer Führungskraft dieser personale Grundrespekt auf Dauer nicht, so müssen Verlust der Achtung in der Belegschaft und Verlust der Selbstachtung zwingend folgen, das ist meine Hypothese.

In jahrelanger Diskussion und Untersuchung dieser Thematik gemeinsam mit vielen hundert Führungskräften bin ich zu folgenden Schlüssen gekommen: Ja, Konfrontation ist notwendig, sonst können wir ökonomisch nicht mithalten und gefährden unseren Wohlstand. Das gilt auch für soziale und kulturelle Organisationen und für Verwaltungseinrichtungen. Und ja, wir müssen lernen unsere Mitmenschen wertzuschätzen, unabhängig von ihrer Nützlichkeit für mich und die Organisation.

Mehr dazu in meinem Seminar „Wertschätzende Konfrontation in der Führung“

Leadership und Verantwortlichkeit

Dürfen wir den Meinungsforschern von Gallup glauben, so arbeiten im deutschsprachigen Raum nur knapp ein Viertel aller unselbständig Beschäftigten „engagiert“ und setzen sich somit „freiwillig für die Ziele ihrer Organisation ein“. Diese engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind natürlich signifikant produktiver als die beiden anderen von Gallup klassifizierten Gruppen, jene zwei Dritteln, die „Dienst nach Vorschrift“ machen und jene 10 bis 20%, die „innerlich gekündigt“ haben.[1]

Jede Studie muss mit kritischer Distanz gelesen werden und andere Studien[2] kommen auch zu wesentlich besseren Werten, aber auch doppelt so viele wie von Gallup erhobene Engagierte wären nur die halbe Belegschaft, die sich ihrer Aufgabe gerne und freiwillig widmet. Ist das akzeptabel? Und wie ließe es sich ändern?

Unabdingbar für eine Entwicklung hin zu einer Organisation mit überdurchschnittlich hohem Engagement ist eine klare und attraktive Zielvorstellungen. Wie schaut der Alltag einer effektiven Kultur engagierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konkret aus? Welche Verhaltensmuster und Grundhaltungen sind dann bei Führungskräften und auf Mitarbeiterebene stärker ausgeprägt als heute? Unter der Bezeichnung „Kultur der Verantwortlichkeit“ wird im folgenden ein zentrales Merkmal einer solchen effektiven und engagierten Organisationskultur zur Diskussion gestellt.

Aus dem Bauchgefühl heraus wissen wir, dass Verantwortlichkeit eine sehr wertvolle Einstellung in der Arbeitswelt ist. Doch was bedeutet Verantwortlichkeit genau? Der Begriff der Verantwortlichkeit gewinnt in diesem Kontext mehr an Schärfe, wenn er von zwei Formen der Nicht-Verantwortlichkeit abgegrenzt wird, nämlich gegenüber dem Begriff „Gehorsam“ auf der einen Seite und dem der „Mutwilligkeit“ auf der anderen Seite.

Gehorsam ↔ Verantwortung ↔ Mutwilligkeit

Gehorsame Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind weitgehend extrinsisch motiviert. Sie verfolgen ihre Ziele nicht aus Überzeugung, sondern weil ein anderer Mensch es so will. Wenn diese sehr verbreitete Art der Führung mit konsequenten Kontrollen unterstützt wird, kann sie durchaus erfolgreich sein. Die Schwachpunkte einer Kultur des Gehorsams sind aber erstens die niedrige Effizienz, weil viel Energie von Führungskräften in ständiger Präsenz und Kontrolle fließen muss, und zweitens das fehlende schöpferische und innovative Engagement, das nur bei intrinsisch motivierten Menschen zu finden ist, die aus Überzeugung und Leidenschaft handeln.

In einer Kultur der Verantwortlichkeit gibt es statt Vorgaben eine Verständigung auf Augenhöhe über Ziele und Aufgaben, welche – wenn sie richtig gestaltet wird – zu einem hohen Commitment führt.  Vielfach besteht neben diesen echten Vereinbarungen eine hohe Handlungsfreiheit bei der Wahl der Wege und Methoden, die zum Ziel führen. Dadurch ist die Förderung von Kreativität und unternehmerischer Initiative keine aufgesetzte Maßnahme, sondern integraler Bestandteil der laufenden Führungsarbeit.

Allerdings muss auch in Verantwortungskulturen ein konsequenter Soll-Ist-Vergleich stattfinden, den man durchaus „Kontrolle“ nennen könnte, wenn dieses Wort nicht so negativ konnotiert wäre. Eine „gemeinsame Auswertung der Zielerreichung“ oder ein „offener kritischer Diskurs“ über Leistungen und Verhalten wären andere Bezeichnungen dafür. Stattfinden sollten solche Verständigungen über die Differenzen zwischen Angestrebtem und real Geschaffenem jedenfalls konsequent und auf allen Hierarchiestufen, am besten Top-down beginnend.

Die dritte Kultur, die wir im Bewusstsein haben müssen, um eine Kultur der Verantwortlichkeit gestalten zu können, ist die Mutwilligkeit. Diese entsteht ebenfalls – wie die Verantwortlichkeit – durch die Befreiung des Menschen aus der Bevormundung. Das zentrale Missverständnis aller emanzipativen Bewegungen, die in der Mutwilligkeit landen statt in der Verantwortlichkeit, liegt im Freiheitsbegriff. Freiheit heißt nämlich nicht „tun können, was ich will“, sondern „tun können, was ich für richtig halte“ (Goethe) und dann dafür geradestehen – sich verantworten.

Eine Freiheit ohne Verantwortung ist Mutwilligkeit, Beliebigkeit, Unverbindlichkeit. Eventuell ist das ein blinder Fleck unserer vom 68er-Denken geprägten Zeit. Solche Mutwilligkeitskulturen finden wir manchmal im gesellschaftlich liberalen, fortschrittlichen, engagierten Bereich, z.B. im Ehrenamt, in Sozialeinrichtungen oder in Schulen. Aber auch unter Softwareprogrammierern und anderen High Potentials, die schwer ersetzbar und rar am Arbeitsmarkt sind, können sich Mutwilligkeitskulturen bilden, weil Führungskräfte den kritischen Diskurs scheuen beziehungsweise das Know-how dafür nicht haben. Aber richtig gestaltete kritische Überprüfungsdiskurse gehören zu den Hauptaufgaben von Führungskräften, auch in liberalen Organisationskulturen. Letztlich dienen diese Diskurse ja nur der Selbstkontrolle und Selbstkorrektur durch die Betroffenen selbst.

Gehorsam

  • Anordnungen, Vorgaben
  • Konsequente Kontrollen

Schwachpunkte:

  • Niedrige Effizienz
  • Wenig Eigeninitiative
Verantwortung

  • Klare Ziele und Aufgaben
  • Konsequente Auswertung

 

Mutwilligkeit

  • Individuelle Freiheiten
  • Kontrolle ist tabu

Schwachpunkte:

  • Wenig Fehlerkorrektur und Weiterentwicklung

Diese richtig verstandene Freiheit war schon Peter Druckers zentrales Motiv für die Erfindung des Management by Objectives: „So ist es sogar einer der Hauptvorzüge des Management durch Zielsetzungen und Aufgabenstellung, dass es uns instand setzt, die Führung durch Selbstkontrolle anstelle von Führung durch ‚Herrschen‘ zu setzen. … (Der Manager) handelt nicht deshalb, weil ein anderer es verlangt, sondern weil er selbst überzeugt ist, dass es nötig ist – er handelt, anders ausgedrückt, als ein freier Mann.“[3]

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir die Verantwortlichkeit und das Engagement von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fördern, indem wir konsequent und systematisch für klare Ziele und Aufgaben sorgen, denen sich die Menschen wirklich verpflichtet fühlen. Freiwillige innere Zustimmung sollte der Normalfall sein, nicht die Ausnahme, dann kommen wir wirklich weiter in der Effektivität.

Wie leicht geschieht es, dass Führungskräfte ungewollt das Commitment ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter korrumpieren, indem sie diese bevormunden und gegen ihren Willen zwingen etwas zu tun. Damit bildet sich – oft ungewollt – eine Gehorsamskultur. Und wie leicht geschieht es, dass Führungskräfte vor einem kritischen Diskurs über Ergebnisse zurückschrecken, weil sie um das Klima und die Beziehungen fürchten. Dadurch entstehen – auch ungewollt – Mutwilligkeitskulturen, welche heute noch nicht so leicht zu identifizieren und zu kritisieren sind wie Gehorsamskulturen. Gut praktizierte Führungsarbeit verlangt also Sensibilität und Mut gleichermaßen, und wo sie gelingt, ist der entscheidende Vorsprung an Effektivität zu schaffen, insbesondere im internationalen Wettbewerb. In China gibt es nämlich laut Gallup nur 2% engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

(Erweiterte Fassung unter www.trigon.at)


[1] Eine hohe emotionale Bindung („engagiert“) weisen in Deutschland laut Gallup Engagement Index 2012 nur 15% aller unselbständig Beschäftigten auf.  Eine niedere Bindung haben 61% und gar keine Bindung („Innerlich gekündigt“) haben 24%. http://www.gallup.com/strategicconsulting/158162/gallup-engagement-index.aspx

[2] Die Unternehmensberatung Towers Watson sieht in ihrer „Global Workforce Study“ 67% engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Deutschland.

[3] Drucker, Peter „Die Praxis des Management“ 1954