Emergenz in der Beratung

Emergente Beratungsprozesse überraschen in jeder Phase mit Einsichten und Lösungen, die nicht vorhersehbar waren. Dafür braucht es neue Formen der Beauftragung sowie besondere Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater.

Der Begriff Emergenz bezeichnet in einem System das Auftauchen von Ereignissen. Beispiele sind das Verhalten von Schwärmen und Netzwerken, Verkehrstaus etwa, oder gesellschaftliche Ereignisse wie der Mauerfall und die Lautverschiebungen in einer Sprache.
Emergente Phänomene sind nicht bewusst geplant und gesteuert. Sie ergeben sich zwar aus dem Zusammenspiel der Elemente, sind aber nicht auf einzelne Verursacher rückführbar. In sozialen Systemen gibt es immer Denk- und Handlungsweisen, die nicht bewusst eingebracht wurden, sondern emergieren. Doch das Thema ist nicht ganz neu.

Klangfigur nach Ernst Chladni (1756-1827):
Sand ordnet sich auf einer Metallplatte, mittels Geigenbogen angestrichen

Henry Mintzberg hinterfragte schon 1978 rational geplante Strategieprozesse und stellte diesen emergente Strategien gegenüber, die plötzlich auftauchen und dennoch realisiert werden. (1)

Und schon 1903 hatte Emile Durkheim die Emergenz gar zum zentralen Thema der Sozialwissenschaften erklärt. Durkheim stellte fest, dass Normen, Werte und Ziele in Gesellschaften oft nicht durch Veranlassung einzelner Akteure zustande kommen, sondern aus dem Zusammenspiel emergieren. (2) Emergenz ist also einerseits eine Selbstverständlichkeit, mit der alle unsere Lern- und Entwicklungsbestrebungen in Organisationen durchsetzt sind. In jedem Beratungsgespräch emergieren z.B. neue Einsichten und Willensimpulse, die nicht vorhersehbar sind. Für längere Entwicklungsprozesse hingegen ist Emergenz noch eine Herausforderung. In jeder Phase können neue Einsichten auftauchen, nicht nur in der Diagnosephase. Und neue Ziele und Handlungsmöglichkeiten emergieren ebenfalls jederzeit, nicht nur in Zukunftsgestaltungsprozessen. Diese schwer planbaren aber relevanten Ereignisse verlangen dann eine flexible Umgestaltung des Gesamtprozesses. Soll der Entwicklungsprozess kreativ und wirklichkeitsorientiert sein, muss er bildsam bleiben.

Ein Beispiel: In einem global tätigen Interessensverband wurde ein Jahr lang über die Neuausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit nachgedacht. Experten wurden eingeladen, die Attraktivität der Wort-Bild-Marke wurde überprüft, drei Szenarien standen letztlich zur Wahl. Bei der Letztentscheidung sollten die unterschiedlichen Positionen und die aufkommenden sozialen Spannungen in einem gemeinsamen Commitment zusammengeführt werden. Während dieses letzten Entscheidungsprozesses emergierte die alles verändernde Einsicht, dass die sinkende Markenattraktivität, aber auch die  unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen ihre tiefere Ursache darin hatten, dass in der Organisation eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Leistungsprozessen bestand, was bei der Erstdiagnose nicht ins Bewusstsein gekommen war. Die Leistungsprozesse waren zu wenig auf den Zweck (Purpose) des Verbandes ausgerichtet. Also wurde das Thema dieser letzten Phase geändert und die künftigen Leistungsprozesse konnten schnell und klar skizziert werden. Die Folge war nur, dass nun die Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr zentral war. Der Entwicklungsprozess verlagerte sich nach einem Jahr weg vom Marketing hin zu den Leistungsprozessen.

Besonders in unserer Zeit, in der Dynamik und Komplexität, aber auch Fragilität und  Disruption eine so große Rolle spielen, könnten Entwicklungsprozesse konsequenter auf Emergenz ausgerichtet werden. Eine Hürde dafür ist die berechtigte Erwartung der Kunden, dass Entwicklungsprozesse vorhersehbar und kalkulierbar sind. Doch emergente Prozesse können sich sowohl unversehens verkürzen als auch verlängern, wenn sie auf weitere Bereiche und Themen ausgedehnt oder verlagert werden. Emergente Beratung verlangt deshalb bildsame Anbahnungs- und Designprozesse, die freilassend gemeinsam mit den Kunden gestaltet werden.

Folgende drei Merkmale solcher Anbahnungs- und Designprozesse können zunehmend beobachtet werden: Erstens werden mehr die Intentionen, Bedürfnisse und Potenziale der Kunden fokussiert als fixe Zielvorstellungen, damit auch das Überraschende Platz haben kann. Zweitens sind generative, Ergebnis- offene  Gruppendialoge eine zentrale Methode des Entwicklungsprozesses. In solchen Dialogen können Einsichten und Willensimpulse emergieren, die weder
für den Auftraggeber noch für Beraterinnen und Berater vorhersehbar waren. Und drittens muss den Kunden ehrlich gesagt werden, dass eine laufende flexible Umplanung des Prozesses die geeignetste Form der gemeinsamen Steuerung ist.

Zu den Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater zählt erstens, dass sie Vertrauensbeziehungen zu Kunden aufbauen können, die über das übliche Maß hinausgehen und an die Stelle des sicheren Halts durch einen vorgefassten Plan treten. Zweitens, die Fähigkeit emergente Dialogatmosphären zu schaffen, in denen sich die betroffenen Menschen schnell öffnen und ehrlich aussprechen.

Weiters gehört daran erinnert, dass die beratende Person jene ist, die am schnellsten und am meisten lernen muss und mit dem eigenem Nichtwissen konstruktiv umgehen können muss. Jegliches Überspielen von ohnehin unvermeidlicher Unsicherheit, jegliches Vorspiegeln von angelerntem Scheinwissen untergräbt die notwendige Ehrlichkeit und das notwendige Vertrauen. Und viertens braucht die beratende Person die Fähigkeit, sich gemeinsam mit den Kunden bei der Prozesssteuerung überraschen zu lassen, ins Offene zu treten und wiederholt umzuplanen. Dafür braucht es einerseits Selbstvertrauen und Erfahrung, andererseits dürfen Beratende nicht Gefangene der eigenen Konventionen werden.

1 Mintzberg, H.: Patterns in Strategy Formation, Mai 1978; Management Science, Vol 24, No. 9, S. 934-948. Zit nach http://www.wirtschaftslexikon24.com „Emergente Strategien“.
2 Durkheim, E.: Erziehung, Moral und Gesellschaft (1903), stw 487 1984, Seite 94 ff.

ursprünglich erschienen in Trigon Themen 3/2021 (mit Bildern)

Agile Kultur und spielendes Gelingen

Das Überhandnehmen des Unberechenbaren nötigt uns zu einer spielerischen Haltung in Management und Organisationsentwicklung.

Herbert Salzmann, Trigon Entwicklungsberatung

Wie viele unfertige Entwicklungsprozesse muss eine Organisation noch starten, um endgültig dort anzukommen, wo das Chaos endet und das Leben beginnt? Die permanente Revolution ist zur Normalität geworden, der Veränderungsprozess zur Alltagsarbeit. Die beste Reaktion darauf? Das Leben anzunehmen anstatt es als Chaos zu diskreditieren, und die eigenen fixen Vorstellungen loszulassen anstatt sie zum Maßstab aller Dinge zu machen. Dann ist das Leben das Leben und nicht mehr ein Chaos.

„Life is, what happens to you, while you are busy making other plans“, wie John Lennon einmal sagte. Wir werden von der Wirklichkeit gezwungen, die einseitige Macherhaltung aufzugeben und durch eine lebensfreundliche Haltung zu ersetzen, die neben allen Initiativen und Formimpulsen immer auch eine Offenheit für die Überraschungen des Lebens zeigt. Wenn diese Haltung, philosophisch „Spiel“ genannt, von genug Menschen geteilt wird, können wir von einer agilen Kultur sprechen.

Erweiterung des rationalen Ichs

Grundlegend für eine solche Kultur ist zunächst ein bewusster Umgang mit dem Ego, von Laloux „Ganzheit“ genannt. Das Bewusstsein dafür kann nicht aus diesem Ego selbst kommen, dem rationalen, sauberen und wohlinszenierten Alltags-Ich. Das Bewusstsein in einer agilen Kultur kommt aus einer tieferen Schicht, manchmal das Selbst genannt, zu dem wir erst durchstoßen, wenn wir dem alltäglichen Ich in seiner Begrenztheit und Mangelhaftigkeit ins Auge schauen können und seine scheinbare Sicherheit aufgeben.

Dieses kleine Ich ist soziologisch betrachtet eine Inszenierung, die in unserer unberechenbaren Arbeitswelt immer brüchiger wird. Der Schatten, das Scheitern und die zeitweilige Ratlosigkeit drängen herein und wollen angenommen werden. Menschen, die damit ein großes Problem haben, werden es in agilen Kulturen schwer aushalten.

Francis Bacon Atelier 3

Atelier Francis Bacon, Dublin (Foto: HS)

So ist agile Selbstführung nicht denkbar, ohne Lern- und Feedbackprozesse im Team, die uns auf unsere Unbewusstheiten aufmerksam machen. Unvollkommenheit und Ratlosigkeit sind in der agilen Welt unsere ständigen Begleiter.

Wir haben gar keine andere Wahl, als mit unserem Nichtwissen die Unterstützung von anderen zu suchen. Keine Erfahrung und keine Professionalität kann es uns ersparen. Wesentliche Erkenntnisse und Entscheidungen emergieren in ko-kreativen Prozessen, das Experiment tritt an die Stelle des Plans, und das Spüren an die Stelle der konsequent verfolgten Strategie (Laloux 2015).

Disruption und agile Selbststeuerung

Und vielleicht ist das gar nicht revolutionär, sondern eher höchste Zeit? Nehmen wir das Beispiel einer Organisation aus der Flüchtlingshilfe. Wie aus dem Nichts sind plötzlich tausende Menschen da. Die Mitarbeiterzahl wird vervielfacht, Standorte schießen aus dem Boden, schnelle Karrieren sind notwendig, Prozesse und Strukturen sind unklar. Und bevor die Hoffnung auf Konsolidierung überhaupt aufkommen kann, kommt die Kehrtwende, Menschen werden entlassen, Standorte geschlossen, Leistungen reduziert.

Es könnte sein, dass wir im Zuge der weiteren Digitalisierung mit ähnlich tiefgreifenden Veränderungen zu rechnen haben, zum Beispiel bei Banken, Medien, in Bildungsprozessen, in der Mobilität oder im Handel. Jedenfalls werden sich agile Kulturen in der künftigen Welt besser bewähren, als zentral gesteuerte. Denn Aufmerksamkeit, Vernetzung und Eigeninitiative an jeder Stelle des Systems sind der zentralen Planung und Steuerung deutlich überlegen.

Agile Entwicklungsbegleitung

Aber auch Beraterinnen und Berater müssen sich fragen, wo und inwieweit vorhersehbare Entwicklungsprozesse noch möglich sind. Das Repertoire der OE-Arbeit ist immer mehr in die Hände des Managements selbst übergegangen, was ja bei Trigon-Beratungen durchaus intendiert ist. Und das Management zählt zunehmend auch Entwicklung zu seiner genuinen Aufgabe. Dafür sind wir auch gerne Fortbildner und externe Begleiter, jedoch wird von uns zunehmend erwartet, jene Prozesse zu gestalten, für die sich das Management mit seinem OE-Knowhow nicht mehr zuständig sieht, also emergente Ko-Kreationen und substanzielle Dialoge, die das implizite Wissen bergen.

Ein Grundsatz der Beratung von Edgar Schein wird in diesem Zusammenhang immer wichtiger: „Nutze dein Nichtwissen“, und tritt mit den Kunden in einen ergebnisoffenen Lernprozess ein, in dem du selbst ein Lernender bist. Als Beispiel sei ein Krankenhaus genannt, in dem die agile Selbststeuerung schon weit gediehen ist. Verschiedene Bereiche arbeiten auch selbstgesteuert an ihrer Weiterentwicklung. Als Berater sind wir wiederholt vor Ort und jede Gruppe kann sich ein Zeitfenster reservieren. Was genau das Problem ist, und was die nächsten hilfreichen Schritte dafür sind, wird erst vor Ort in Dialogen sichtbar, in denen die unterschiedlichen Sichtweisen zusammenspielen und sich in ko-kreativen Erkenntnissen und Entscheidungen verdichten. So wird der Beratungsprozess zu einem sehr lebendigen und überraschenden, für Kunden und Berater gleichermaßen.

Vom spielenden Gelingen

Um solche Nichtvorhersehbarkeit wirklich innerlich annehmen zu können, müssen wir die Kreativität im Alltag neu entdecken und im besten Sinne wieder „spielen“ lernen. Mit Spiel bezeichnete Friedrich Schiller eine Haltung, die permanent zwischen eingreifender Formung und Empfänglichkeit für das Leben balancierend schwingt. Die einseitige Betonung des Form- oder Macher-Pols ist der Ursprung jeder Gewalt, doch „nichts was wir erzwingen, hat Bestand“, wie Jean Gebser, der Pionier der integralen Bewusstheit sagt. (Gebser 1959) Das Ungleichgewicht auf der anderen Seite, dem Lebens-Pol, würde hingegen ins Chaos führen. Nur das Balancieren beider Kräfte ermöglicht spielerisches Gelingen.

„Ringelspiel“ von Hugo Imfeld (Foto: HS): Das physische Übergewicht der Erwachsenen wird durch das seelische Übergewicht des spielerischen Kindes balanciert.

Unsere westliche Kultur war zuletzt sicher mehr dem Formpol verschrieben und eine Öffnung gegenüber allem Zufälligen, Überraschenden und Unvorhersehbaren dürfte wieder mehr Freude und Menschlichkeit in die Unternehmen bringen. Letztlich fußt diese Öffnung, wie auch Laloux betont, auf einem neuen Urvertrauen in die Welt, besonders bei der jüngeren Generation. Im Spiel wird diese vertrauensvolle Empfänglichkeit mit der verantwortungsvollen Gestaltung balanciert.

Literatur:

Laloux F. (2015) Reinventing Organisations.

Gebser J. (1961) Vom spielenden Gelingen.

Erschienen als print in den „Trigon Themen 1/2018 Agilität und Kultur“ https://www.trigon.at

Führung auf Augenhöhe

Geachtete Führungskräfte haben immer auf Augenhöhe agiert, agile Organisationen hingegen verlangen dies nicht nur von Führungskräften, sondern von allen Mitarbeitenden.

Mit der Metapher Augenhöhe ist eine Beziehungsqualität in der Zusammenarbeit gemeint, die im wissenschaftlichen Diskurs Gleichwürdigkeit genannt wird. Der Erziehungsforscher Jesper Juul bezeichnet damit eine Subjekt-Subjekt-Beziehung in Familie und Schule, die das Kind auf Augenhöhe respektiert, anstatt es zum Objekt zu machen. (Juul 2009) Im Arbeitskontext wären mit Objekt die Arbeitskraft, die Mitarbeiter oder „das Personal“ gemeint.

Mitarbeitende auf Augenhöhe zu behandeln heisst in diesem Sinne, dass diese nicht als Ressource behandelt werden, sondern als freie und gleichwürdige Menschen. Im Zusammenspiel mit der Positionsmacht einer Führungskraft eine schwierige Herausforderung, wo mit Scheitern gerechnet werden muss. Und hier genau setzen agile Organisationen an: Durch die Neuverteilung von Entscheidungsrechten im System, machen sie es dem Individuum leichter, auf Augenhöhe zu agieren.

Paradigmenwechsel zur Gleichwürdigkeit

Juul spricht diesbezüglich von einem so neuen und tiefgreifenden Paradigmenwechsel, dass er manchen Autoritätspersonen nicht mehr gelingen kann. Sie können sich den zentralen Führungsprozess des „Orientierung schaffens“ nicht vorstellen, wenn sie auch Mitarbeitenden autonome Entscheidungsrechte einräumen, wie z.B. in der agilen Sebstorganisation.

Die Sorge, dass Augenhöhe den Führungsprozess gefährde, ist aber deshalb schon überzogen, weil diese nur auf einer von mindestens zwei Kommunikationsebenen gilt, nämlich auf der  Beziehungsebene (Watzlawick „Menschliche Kommunikation“ 1969). Auf einer zweiten Ebene, der Inhaltsebene, werden sehr wohl unterschiedliche Argumente und Verantwortlichkeiten wirksam, was für wirksames Führen ausreichend ist. Im Gegenteil, je vertrauensvoller, respektvoller und loyaler die Beziehung zwischen Menschen ist, um so leichter gelingen inhaltliche Auseinandersetzungen und Verständigungsprozesse.

Auf der Beziehungsebene können wir also Augenhöhe pflegen, und zugleich werden auf der Inhaltsebene Unterschiede geordnet wirksam. Kraft der Argumente und Kraft der Verant­wortlichkeit für übergeordnete Aufgaben können sich Führungskräfte sehr wohl gegenüber Mitarbeitenden durchsetzen, auch wenn – oder besser: gerade weil – sich beide als Menschen gleichwürdig achten. (Seminar H.Salzmann „Wertschätzende Konfrontation“)

Im Kern der Gleichwürdigkeit steht die Würde, hier wohl am besten definiert als „Recht auf Selbstverpflichtung“. Der Führungsprozess ist demgemäß dann auf Augenhöhe gelungen, wenn Mitarbeiter sich selbst freiwillig zu den notwendigen Aufgaben verpflichten.

MbO gelingt nur auf Augenhöhe

Interessant ist nun, dass das heute wohl verbreitetste Führungssystem, das Führen mit Zielen (MbO) nur dann funktioniert, wenn es auf Augenhöhe praktiziert wird. Peter Drucker, dessen Erfinder, hatte 1954 schon die Vision, dass beim „Führen durch Ziel- und Aufgabenklärung“ der Mitarbeiter nicht deshalb handelt „weil ein anderer es verlangt, sondern weil er selbst überzeugt ist, dass es nötig ist“. (Drucker 1954)

Das Führen mit Zielen war in der Theorie also schon auf Augenhöhe angelegt. Die Praxis schaut allerdings anders aus, denn in zu vielen Organisationen werden Ziele nicht ernst genommen, weil sie eben nicht auf Augenhöhe zustande kommen. Das Commitment zu einer Aufgabe kann nur dann wirklich stark sein, wenn der Mensch sich selbst freiwillig auf Basis von Einsicht und Vertrauen zu dem Ziel verpflichtet.

Und das genau ist der damit gar nicht so revolutionäre Kern des Agilen Managements, dass jeder Mensch sich freiwillig zu seinen Aufgaben verpflichtet.

Nicht-Augenhöhe, ein Übergriff

Um Augenhöhe klar zu verstehen, müssen wir sie von der Nicht-Augenhöhe abgrenzen, die entweder unter oder über der Augenhöhe liegen kann. Sehen Führungskräfte ihre Vorhaben bedroht, so laufen sie Gefahr in eine unbewusste Über-Ich oder Eltern-Haltung gegenüber Mitarbeitern zu gehen (Freud). Diese reagieren dann häufig aus einer ebenfalls unangemessenen Kindhaftigkeit mit Trotz oder ängstlicher Anpassung.

Wir alle sind in hohem Maße gefährdet, immer wieder die Augenhöhe zu verlieren, insbesondere dann, wenn wir Macht verliehen bekommen. Es muss nicht immer so deutlich sein, wie bei jener Schulleiterin, die bei Workshop-Beginn die Lehrenden mit einem „Gsch, Gsch, Gsch“ dazu bewegen will, ihre Materialien vom Tisch zu räumen. Nicht auf Augenhöhe sind auch Führungskräfte, die vor dem Team keine Fehler zugeben können, die ihre Teammitglieder loben und motivieren, die für die Mitarbeiter ein Leitbild verfassen, die in solchen Leitbildern schreiben „unsere Mitarbeiter sind unsere wichtigste Ressource“, die Mitarbeiter beurteilen, ohne sich selber dem Urteil der Mitarbeiter zu stellen usw. Als regressives Gegenstück ist in solchen Organisationen das Jammern und Schimpfen auf die Führung weit verbreitet, und eine generelle Scheu, kritisch zu denken, offen zu sprechen und Selbstverantwortung zu übernehmen.

Bewusstseinsentwicklung und Führung

Menschen, die offen miteinander lernen und ihr Verhalten gegenseitig kritisieren, seien es Führungskräfte oder selbstgesteuerte Teams, müssen eine Wachheit gegenüber diesen Dynamiken entwickeln, um nicht in kindhafte Affekte zu regredieren oder ihr Über-Ich anderen belehrend überzustülpen.

In der Philosophie der Freiheit beschreibt Rudolf Steiner drei Stufen der moralischen Entwicklung: Erstens den triebhaften Egoismus, der dem Freud’schen Kind-Ich entspricht. Zweitens den gehorsamen Menschen, der zunächst ein Über-Ich als Gegenüber braucht, das er dann internalisiert und zum eigenen Über-Ich macht. Und drittens das freie und verantwortliche Selbst, das aus Einsicht handelt. Auch für C.G.Jung ist die Phase eines disziplinierenden Über-Ichs nur ein Übergangszustand auf dem Weg zum authentischen Selbst. Nur das authentische Selbst ist zu der notwendigen Wachheit und Kritik gegenüber den eigenen Nicht-Augenhöhe-Tendenzen bereit und kann den Selbstwert dabei aufrecht erhalten.

Mit der agilen Organisation wird der dritte Entwicklungszustand des authentischen Selbst eine Notwendigkeit, und zwar nicht nur bei Führungskräften, sondern bei allen Mitarbeitenden. Denn die Autorität wird in agilen Organisationen nicht abgeschafft, ja meistens nicht einmal reduziert, sondern neu im System verteilt, sodass alle Mitarbeitenden in abgegrenzten Bereichen das Recht haben „Ermessensentscheidungen“ zu treffen, nachdem sie sich mit anderen dazu beraten haben.

Es deutet einiges darauf hin, dass unsere Gesellschaft sich insgesamt aus einem Entwicklungsstadium emanzipiert, in dem die Überstülpung eines fremden Über-Ichs hingenommen wird, sei es in Führung, Lehre, Politik oder in den Medien. Auch wenn damit zugleich auch Rückfälle in eine schon überwunden geglaubte Triebhaftigkeit beobachtbar sind, könnte das Hauptphänomen eine Entwicklung hin zu einer neuen Kultur der Augenhöhe sein.

Literatur:

Drucker P. 1954. Die Praxis des Management. Düsseldorf.

Juul J. (2009). Vom Gehorsam zur Verantwortung. Weinheim.

Robertson, B. (2016). Holacracy. München.

(erschienen als print in den „Trigon-Themen 2/2017 – Agilität und Augenhöhe“)

Tieferes Selbst und Transformational Leadership

Die letzten Jahrzehnte der Führungs- und Entwicklungslehren waren eindeutig dominiert von systemischen Theorien, die zugleich eine Abkehr von „Great-Man“-Theorien und anderen zu simplen Individualitätskonstruktionen bedeuteten. Zugleich kann dieser Paradigmenwechsel auch als Umschwung in der philosophischen Grundfrage interpretiert werden, ob das Sein (der Umstände) das Bewusstsein der Menschen bestimmt, oder ob das Bewusstsein (Einzelner) auch das Sein verändern kann.

Dass nach dem kollektiven Trauma des Nationalsozialismus und dessen autoritären Ausläufern in den Nachkriegsjahren das Pendel zugunsten des Systemischen umschlagen musste, ist historisch verständlich und war ein überfälliger Entwicklungsschritt. In der Praxis der Unternehmensführung allerdings wurde immer auch an der Wirkung einzelner herausragender Personen auf das System festgehalten, wenn auch nicht sehr plausibel theoretisch untermauert.

Mit dem Konzept des „Transformational Leadership“ (vgl. Bass, 2006) bekamen nun im neuen Jahrtausend die Vertreter dieses Individualismus fundierten Rückenwind. Bei dieser Theorie geht es um die „einstellungsverändernde Wirkung“ von Personen in ihrem Umfeld, ohne dabei allerdings in einen heroischen Duktus zu verfallen. Heroisch-narzisstische Ansätze gab es ja seit jeher und es ließen sich immer gute Beratungsgeschäfte damit machen, weil sie den Auftraggebern mit Sätzen schmeichelten, wie „Wenn du ein Schiff bauen willst, lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten Meer“ (der großartige Saint Exupery verzeihe mir). Theoretisch konnten diese Ansätze aber nicht wirklich überzeugen, weil sie eben mehr auf Beliebtheit denn auf Glaubwürdigkeit bauten.

Nicht so die Theorie des „Transformational Leadership“, die von Forschern um Bernard Bass, dem Herausgeber des monströsen wissenschaftlichen Standardwerkes „The Bass Handbook of Leadership“ soliden empirischen Prüfungen unterzogen wurde. Im Wirkungsbereich von Menschen, die in ihrem Führungsverhalten vier zentrale Kompetenzen zeigen, sind eindeutige Bestwerte bezüglich Leistung, Entwicklung und Motivation festzustellen. Die vier Kompetenzen sind, erstens das Wirken durch eine glaubwürdige Moral und Persönlichkeit (idealized influence), das Begeistern durch positive Zukunftsbilder (inspirational motivation), das Knüpfen von echten individuellen Beziehungen (individual consideration) und das Unterstützen durch Methodik und Zutrauen (intellectual stimulation).

Zumindest den ersten dreien liegt meines Erachtens ein Persönlichkeitsbild zu Grunde, das von Sokrates bis Viktor Frankl immer wieder aufgezeigt wurde, das aber bis heute nicht wirklich populär ist. Nämlich die Theorie von einem tieferen Selbst (C.G.Jung), in das wir zumindest in besonderen Momenten hineinfinden, die Maslow „Peak-Experiences“ nannte, oder Czikszentmihalyi „Flow-Erlebnisse“. In diesen Momenten sind wir tiefer in uns selbst und zugleich in der Welt verankert, wodurch besondere Erkenntnissen und Leistungen möglich werden.

Durch dieses Wirken aus dem tieferen Selbst vermitteln Führungskräfte Zuversicht, Vertrauen und Begeisterung. Dieses Selbst ist die Quelle echter Moral und echter Innovation, jenseits von internalisierten Konventionen und oberflächlicher Anpassung.

Steve Jobs z.B. hatte wider jede Vernunft von Technikern verlangt, dass auch unsichtbare Teile im Computer schön zu sein hätten. Aber der Erfolg gab ihm Recht, und der hatte seiner Meinung nach durchaus auf Intuitionen aus dem tieferen Selbst zu tun: „Die Intuition ist ein sehr mächtiges Instrument, meines Erachtens viel mächtiger als der Intellekt. Dies hat bis heute einen großen Einfluss auf meine Arbeit. (…) Der Geist arbeitet langsamer und man erkennt eine enorme Weite im Augenblick. Man sieht so viel, was man bereits hätte sehen können. Das ist eine Disziplin, in der man sich üben muss.“ (zit.nach W.Isaacson „Steve Jobs“, 2011)

Mit verantwortlich für die geringe Bekanntheit eines tieferen Selbstes jenseits des alltägliche Ichs ist dessen esoterische Aufladung. Dabei handelt es sich um – wenn auch subtile – Alltagserfahrungen, die jeder Mensch kennt und die durch einfache Übungen verstärkt werden können. So empfehle ich gerne in wichtigen Gesprächen die eigenen Fußsohlen zu spüren, um die Aufmerksamkeit über den Tastsinn in den eigenen Körper und damit auch näher an die eigene Seele zu lenken. Dadurch werden seelische Impulse und Automatismen wahrnehmbar und steuerbar, denen wir sonst ausgeliefert sind.

Diese schwebende Aufmerksamkeit, die das eigene Seelenleben beim Handeln begleitet, kann als Ansatzpunkt für das tiefere Selbst bezeichnet werden. Sie vermag die affektive Abfolge unserer Reiz-Reaktionsmuster zu unterbrechen, und eröffnet Freiheitsmomente, in denen wir entscheiden können, ob wir einem Impuls nachgeben wollen oder ob wir andere Handlungen für zielführender halten. Unsere moralischen Überzeugungen können dadurch in Form von Taten sichtbar werden, was zum Image einer „geachteten Persönlichkeit“ beitragen kann. (idealized influence).

Ein anderer wichtiger Aspekt dieser bewussten Verbundenheit mit der eigenen Seele ist, dass wir empfänglicher für die Signale aus unserem „somatic consciousness“ sind, wie es der Hypnotherapeut Stephen Gilligan formuliert. Wir wissen dann, was richtig und hilfreich ist und die Leidenschaftlichkeit und Zuversicht solcher Lösungsperspektiven können auch andere begeistern. (inspirational motivation).

Und drittens können wir mit selbstzentrierten Menschen leichter in Beziehung treten, weil sie mehr als nur Maske und Rolle sind. Oft strahlen sie eine fast unbegründete Freude aus und eine bejahende Haltung gegenüber jedem, die auch allgemeine Menschenliebe genannt werden kann. (individual consideration)

Um den Kreis zum Systemischen wieder zu schließen sei betont, dass diese Wirkungen des tieferen Selbst keineswegs nur auf Führungskräfte beschränkt sind. Im Gegenteil, „oft offenbart der Herr einem jüngeren Bruder, was das beste ist“, wie eine Bendiktinerregel besagt, weshalb der Abt die Gemeinschaft vor Entscheidungen zusammenrufen sollte. In diesem Sinne sorgt die neuere transformationale Führung auch durch Systemgestaltung dafür, dass in der gesamten Organisation geachtete Persönlichkeiten arbeiten, Raum für Inspiration da ist und jeder einzelne Mensch geschätzt wird.

Bass, Bernard u.a.: „Transformational Leadership“ 2006 (englisch)

Isaacson, Walter: „Steve Jobs“ 2011

Gilligan, Stephen: „Generative Trance – das Erleben kreativen Flows“ 2014.

Mehr dazu in meinen Seminaren „Transformational Leadership“ und „Inspirational Leadership“, der erweitereten Fassung davon: www.trigon.at (im Suchfenster „Herbert Salzmann“ eingeben)

Führungsstil und Gesundheit

Selbstverantwortliche Menschen sind produktiver und gesünder, doch auch sie müssen geführt werden

Dass schlechte Führung krank machen kann, darüber sind sich wohl die meisten Menschen einig. Doch gilt auch das Umgekehrte? Gibt es einen gesundheitsfördernden Führungsstil? Und wenn ja, worin liegt das spezifisch Heilsame? Etwa in der schonenden Behandlung der Menschen? In der Zurückhaltung bei Kritik und Forderung? Weit gefehlt – die entscheidenden Gesundheits-Faktoren scheinen Freiheit und Selbstbestimmung zu sein.

Schon in den 50er Jahren wurde erkannt, dass die Entwicklung von Autonomie und Selbstverwirklichung ein tiefes Bedürfnis des Menschen ist, und dass „selbstverwirklichende Persönlichkeiten“ ein höheres Maß an Gesundheit, Energie und Lebensqualität haben. (Maslow, 1954) Vieles spricht dafür, dass dieses zunächst noch als elitär eingestufte Bedürfnis in unserer Wissensgesellschaft mittlerweile zu einem der zentralen Motivations- und Gesundheitsfaktor geworden ist.

Zu dieser Erkenntnis kommt auch die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie zum Thema Führung und Gesundheit: „Es kam heraus, dass die Autonomie, also der Freiheitsgrad in der persönlichen Arbeit, die größte Rolle dafür spielt, dass sich ein Mitarbeiter vom Unternehmen und der Führung in seiner Gesundheit unterstützt fühlt.“ (Kleinschmidt, 2013, S. 12)

Äußere und innere Freiheit

Damit sind wir bei der Frage, ob selbstbestimmte Menschen von sich aus auch die Leistungsziele der Organisation verfolgen, oder ob sie extrinsisch dazu bewegt werden müssen. Um das zu beantworten muss der Freiheitsbegriff etwas differenziert werden. Denn Freiheit meint nicht, tun zu können, was ich mag, sondern was ich für richtig halte. Diesen Freiheitsbegriff des deutschen Idealismus, der so grundlegend für jedes demokratische Zusammenleben in der offenen Gesellschaft ist, lässt Goethe seinen Wilhelm Meister erst am Ende seines Lebens erkennen:

„Als aber der Zirkel durchlaufen war, sah ich, dass das unschätzbare Glück der Freiheit nicht darin besteht, dass man alles tut, was man tun mag und wozu uns die Umstände einladen, sondern dass man das, ohne Hindernis und Rückhalt, auf dem geraden Wege tun kann, was man für recht und schicklich hält.“

Doppelte Unfreiheit

Dem Zustand der Freiheit steht demzufolge eine zweifache Unfreiheit entgegen: Erstens die äußere Unfreiheit, die durch Bevormundung den eigenen Willen und die Initiativkraft einschränkt, und zweitens die innere Unfreiheit, die uns durch egoistischen Impulse davon abhält, das zu tun, was wir selbst für richtig halten. Mit beiden Unfreiheiten hat verantwortliche Führung umzugehen.

Letztlich scheint es sinnvoll, eine mechanische Befolgung von Regeln und Anweisungen zugunsten der verantwortlichen Eigeninitiative zu überwinden. Denn die Situationen, für die es keine Regeln gibt, nehmen dramatisch zu, und die permanente Überwachung und Steuerung der Menschen durch Führungskräfte ist schlicht ineffizient.

Trotzdem ist mit der inneren Unfreiheit und mit der Fehlbarkeit des Menschen auf jeder Hierarchiestufe zu rechnen. Ein blindes Vertrauen darauf, dass wir immer tun würden „was recht und schicklich“ ist, hieße den Menschen überschätzen. Irrtümer und Individual- und Abteilungsegoismen sind eine Realität in jeder Organisation.

Führen mit Zielen – ein alter Hut?

Als Peter Drucker 1954 die ersten Umrisse des MbO formulierte, war er von der Vision getragen, dass durch eine offene und klare Abstimmung von Aufgaben und Zielen das „Führen durch Herrschen“ zugunsten eines „Führens durch Selbstkontrolle“ ersetzt werden könne. Der verantwortliche Mensch handle dann nicht „… weil ein anderer es verlangt, sondern weil er selbst überzeugt ist, dass es nötig ist – er handelt, anders ausgedrückt, als ein freier Mann.“ (Drucker, 1970, S.150)

Doch dieses Führen durch Selbstkontrolle war immer auf zwei Säulen gebaut, und das gilt bis heute: Es braucht die Korrektur und Abstimmung der eigenen Vorstellungen mit den betrieblichen Notwendigkeiten, und es braucht eine kritische Auswertung der Ergebnisse. Diese beiden Eckpfeiler des Führens – Ziele und Kontrolle – werden auch in einer Freiheitskultur nicht ausgehebelt, sie werden nur in einer würdigeren Weise gepflegt.

Führen in der offenen Wissensgesellschaft

Wer verstehen will, in welcher Weise autonome, selbstverantwortliche Menschen heute zu führen sind, kann sich Anleihen in der modernen Wissenschaftstheorie Karl Poppers holen. Wissen entsteht und optimiert sich durch zwei einfache Prozesse: Erstens durch mutige und kreative Hypothesenbildung, und zweitens durch die Kritik dieser Hypothesen. (Popper 1994)

Umgelegt auf die Arbeit in der Wissensgesellschaft bedeutet das: Erstens brauchen Mitarbeiter die Freiheit, eigene Lösungen für ihre alltäglichen Herausforderungen zu entwickeln – natürlich im Rahmen von abgestimmten Aufgaben und Zielen. Und zweitens muss jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin und vor allem jede Führungskraft sich dem Prozess des kritischen Auswertens und Hinterfragens stellen.

Zur Gesundheit, wie sie die WHO definiert, gehört nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch das körperliche, seelische und geistige Wohlbefinden. Dieses ist zugleich die Quelle der Vitalität, die Menschen in ihre Arbeit einbringen und somit ein wertvolles Gut für Individuen und Organisationen.

Durch ehrliche und wertschätzende Dialoge über Ziele und Ergebnisse werden zwei elementare Bedürfnisse geistig-seelischen Wohlbefindens befriedigt. Erstens gewinnen Mitarbeitende autonome Gestaltungsräume, und zweitens gewinnen sie innere Sicherheit, weil sie wissen, was von ihnen erwartet wird und wann sie erfolgreich sind.

In der eingangs erwähnten Studie werden genau diese zwei Faktoren von Mitarbeitern als wichtigste Unterstützung ihrer Gesundheit durch die Führung bezeichnet: erstens das Schaffen autonomer Gestaltungsräume und zweitens Transparenz über Strategien und Erwartungen des Unternehmens. (Kleinschmidt, 2013)

Ist Kontrolle entwürdigend?

Der Dünkel, dass Kontrolle entwürdigend sei, hat nicht nur mit schlecht geführten Führungsgesprächen zu tun, sondern manchmal auch mit dem illusionären Selbstbild, dass man selber frei von Irrtum und Egoismus sei und zu sein habe. Nein – niemand muss frei von diesen Mängeln sein und kann es auch nicht! Deshalb ist konstruktive Kritik gerade in einer Freiheitskultur so notwendig.

Ob diese Aufgabenklärung und Kritik nun durch respektvolle Vorgesetzte geübt wird, die fähig sind, die Würde auch in einem fehlbaren Menschen zu sehen, oder ob wir künftig mehr zu kollegialen Formen von Abstimmung und Kritik finden werden, hängt vom Mut und der Innovationsbereitschaft der obersten Führung ab. Beide Modelle erlauben, dass selbstbestimmte Menschen darin wirken, wobei in der kollegialen Variante sicher die Zukunft liegt.

Das Rad muss dafür allerdings nicht neu erfunden werden, denn die klassischen Führungs- und Motivationstheorien von Maslow oder Peter Drucker bieten erstaunlich zeitgemäße Perspektiven, wenn sie von ihrer Banalisierung befreit und wirklich erstgenommen werden.

Ermutigend ist jedenfalls, dass finanzieller Unternehmenserfolg und Gesundheitsbedürfnisse der Mitarbeitenden kein Widerspruch sind, denn Unternehmen mit einer kooperativen Führung, die für Transparenz und Autonomie sorgen, sind zugleich diejenigen, die die höchsten Umsatzrenditen haben. (Kleinschmidt, 2013)

Drucker, Peter: Die Praxis des Management, Düsseldorf 1970 (1954).

Kleinschmidt, Carola: „Kein Stress mit dem Stress – eine Handlungshilfe für Führungskräfte“, Güthersloh 2013.

Maslow, Abraham: Motivation und Persönlichkeit, Olten 1977 (1954).

Popper, Karl: Alles Leben ist Problemlösen, München 1994.

(erschienen als print in den „Trigon-Themen 1/2015“)

Müssen Führungskräfte talentiert sein?

Talente sind so eine Sache, denn sie haben alle auch ihre dunkle Seite. Ist jemand begabt mit Durchsetzungsfähigkeit, so neigt dieser Mensch auch zu Rücksichtslosigkeit, gute Zuhörer rücken manchmal zu spät mit der Sprache heraus, Ordentliche können pedantisch wirken, Begeisterungsfähigen kann es an Disziplin bei der Durchführung mangeln, Teamfähigen an Eigeninitiative, und so weiter. Jedes Talent ist zugleich auch eine Schwäche, jede Gnade ein Fluch.

Deshalb ist das „Gleichnis der anvertrauten Talente“ in der Bibel so lehrreich: Der Herr gibt seinen Knechten, je nach deren Fähigkeiten 5, 2 und 1 Talente (alte Währung). Nach einem Jahr hat der eine Knecht die 5 verdoppelt, der zweite die 2 und beide werden belohnt: „Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen. Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ (Mt 25, 14-30) Der mit dem einen Talent hatte dieses vergraben, damit er es nicht verliere, und hier wird die Bibel nietzscheanisch deutlich: „Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! … Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.“

Was wir für den Umgang mit unseren Talenten daraus lernen können? Jedes Talent ist zugleich eine Herausforderung zum Dazulernen, zur Entwicklung jener Fähigkeiten, die dem Talent gegenüberstehen: Ordentliche müssen flexibel werden, Durchsetzungsstarke zurückhaltend, Teamfähig eigeninitiativ usw. Ausgangspunkt jeder Kompetenzentwicklung ist also die kritische Selbstreflexion. Jeder Mensch bringt Teilbegabungen mit, die beim Führen von Menschen wichtig sind. Aber jeder Mensch bringt auch die zugehörigen Schattenseiten mit, und nur wer diese durch Selbstentwicklung umwandelt, kommt in jene Mitte, die zum Führen anderer Menschen befähigt.

Deshalb kann mit Peter Drucker gesagt werden: Führen kann und muss gelernt werden. Kein Mensch bringt genug Talente dafür mit und kein Mensch bringt nichts dafür mit. Entscheidend ist letztlich, ober wir unsere Talente verdoppeln. Einem Menschen, der seine Schwächen nicht kennt und der sich dadurch auch nicht selbst beherrschen kann, verweigern wir instinktsicher die Gefolgschaft. Mit gutem Grund: Wie soll ein solcher mich führen, wenn er sich selbst nicht führen kann?