Umgang mit „unlösbaren“ Problemen

In emergenten Lern- und Beratungsprozessen ist es empfehlenswert mit den aktuellen Herausforderungen zu arbeiten, wenn man sich traut. Dadurch kann dem Kunden am unmittelbarsten und wirksamsten geholfen werden. Im Rahmen von Führungslehrgängen beispielsweise werden dann gerne „unlösbare“ Fälle vorgebracht, bei denen schon alles mögliche versucht wurde. 

Die Wahrscheinlichkeit, dass hier noch eine neue Perspektive und neuer Mut entsteht, ist nicht hoch. Aber es kann gelingen, im Rahmen einer guten Lernkultur, durch Co-Kreation zu zweit oder in einer Gruppe von Menschen, die sich trauen sich selbst zu sein. Das ist meist der Schlüssel zur Emergenz von neuen Einsichten und Lösungen.

Was aber tun, wenn nichts mehr geht? Wenn Kunden oder Fallbringer sagen, „haben wir schon gemacht, haben wir alles schon probiert, hat auch nicht geholfen, wurde von oben her definitiv ausgeschlossen“ usw.?

Was dann noch bleibt, ist die Möglichkeit des Annehmens der Situation. Das Loslassen vom Verändern-Wollen. Das Problem wird dann zwar nicht verbessert, aber wenigstens meine Einstellung zum Problem wird besser. Einstellungswerte oder Leidenswerte hat Viktor Frankl solche inneren Werterfahrungen genannt, wo es um das Annehmen des Unveränderlichen geht. (V.Frankl, „Ärztliche Seelsorge“ 1965)

Was Viktor Frankl geholfen hat im KZ zu überleben und was Elisabeth Kübler Ross auch als „Veränderungskurve“ im Sterbeprozess beschrieben hat, ist von allgemeiner Bedeutung für die menschliche Motivation. Beide Konzepte zeigen uns, dass im Annehmen eines unveränderlichen Schicksals ein tiefes seelisches Moment und eine unvermutete Kraftquelle liegen kann. Diese Kraftquelle steht auch Mitarbeitern und Führungskräften zur Verfügung, wenn sie vor unlösbaren Problemen stehen. 

Wie gehen wir als Berater methodisch vor? Am Anfang steht immer der Versuch etwas zu ändern. Das „Change it“. Geht da nichts mehr, auch nach mehreren Versuchen, bleiben noch zwei Optionen: Das Annehmen, manchmal auch „Love it“ genannt, und das Verlassen der Beziehung, des Projekts oder der Organisation. („Leave it“).

Insbesondere die Perspektive des Leave it kann sehr befreiend wirken. Manchmal wird ein Change it gerade dadurch möglich, dass das Leave it kein Tabu mehr ist. Die Schwäche der eigenen Position kann meist auf einen Faktor zurückgeführt werden, nämlich dass man keine Wahlmöglichkeiten mehr hat. Sobald auch ein Leave it denkbar ist, gewinnen wir eine zweite Wahlmöglichkeit und gehen dann freier und mit neuem Mut an das Change it heran. Daran erkennen wir, welche Kraft in der Wahlfreiheit liegen kann. 

Viktor (der „Siegreiche“) Frankl hat seine letzte Wahlmöglichkeit im KZ, nämlich morgens liegen zu bleiben – und damit den sicheren Tod zu wählen – als entscheidende Kraftquelle für sein Überleben beschrieben. Ein Mensch ohne Wahlmöglichkeit verliert seine letzte Würde und damit seine letzte Kraft. In scheinbar ausweglosen Coachingsituationen ist deshalb als erstes ein Plan B zur jetzigen Situation zu suchen.

Doch die höchste Diziplin der Selbstmotivation dürfte allerdings im bewussten Annehmen eines Problems liegen. Viktor Frankl beschreibt sie als dritte Möglichkeit der Werterfahrung, neben dem schöpferischen Einwirken auf die Welt und dem Erleben, Erfahren und Genießen der Welt. 

„Denn das Leben erweist sich grundsätzlich auch dann noch als sinnvoll, wenn es weder schöpferisch fruchtbar noch reich an Erleben ist. … Denn wie der Mensch sich zu seinem unabänderlichen Schicksal einstellt, darauf kommt es hier an. … Mögen die Möglichkeiten und der Wertverwirklichung noch so eingeschränkt sein – Einstellungswerte zu verwirklichen, bleibt noch immer möglich.“ (Viktor Frankl, Ärtzliche Seelsorge 1965)

Für Frankl ist die bewusste Einstellungs-Wahl der Schlüssel zu einem bewussten, freien und verantwortlichen Leben. (vgl. seinen Inspirator Max Scheler „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ 1928) Hier salopp von „Love it“ zu sprechen, klingt zunächst etwas oberflächlich. Dahinter steckt allerdings eine subtilere Form der Liebe, die uns meist solange verborgen bleibt, bis wir durch eine solche Schicksalsprüfung gehen mussten. Jedenfalls wäre es vermessen, das „Love it“ mit Resignation zu verwechseln.

Eine Konsequenz solcher Entschiedenheit angesichts unlösbarer Probleme ist, dass der Zustand des Jammerns keine Perspektive mehr bietet. Kurzfristig müssen wir uns mürrische oder resignative Phasen wohl gestatten. Allerdings nur eine begrenzte Zeit, finde ich.

Solche Phasen mögen kurzfristig notwendig und gesund sein, um einen Transformationsprozess einzuleiten. Auf Dauer allerdings dürfen wir erwarten, dass sich die Emotion ins Bewusstsein hocharbeitet und eine innere Entschiedenheit an die Stelle des Jammerns und Leidens tritt. Das verlange ich von mir selbst und auch von anderen Menschen. Wer dauerhaft im Jammern hängenbleibt, ist in einem Entscheidungsprozess stecken geblieben und darf irgendwann auch aufgefordert werden, diesen zu Ende zu führen: Love it, leave it or change it.

Vertiefung: 

Viktor Frank, „Trotzdem Ja zum leben sagen“ 1946 (KZ Erfahrungen). „Ärztliche Seelsorge“ 1965 (Hilfen für Berater und Therapeuten)

Max Scheler, „Die Stellung des Menschen im Kosmos.“ 1928 Die menschliche Person kann auch über sich selbst, als Lebewesen stehen, und Einstellung beziehen.

Reinhard Sprenger, „Die Entscheidung liegt bei dir – Wege aus der alltäglichen Unzufriedenheit“ 1997. Über das love it, leave it oder change it.

Veränderungskurve nach Elisabeth Kübler-Ross in Chance Prozessen: Fritz Führungskreise:  https://www.fritz.tips/veraenderungskurve-nach-kuebler-ross/

Veröffentlicht von

Herbert Salzmann

Gesellschafter der Trigon Entwicklungsberatung, herbert.salzmann.trigon.at. Geb. 1959 in Vorarlberg, Lehre als Vermessungstechniker, 7 Jahre Techniker, daneben Abendgymnasium. Geistes- und sozialwissenschaftliche Studien in Innsbruck und Freiburg. Ab 1990 Ausbildung in Organisationsentwicklung und Managementtraining durch Jack F.Moens / NPI Holland. Beratungserfahrung seit 1990, diverse Weiterbildungen in OE, Coaching und Wirtschaftsmediation. Lehraufträge an der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Führungsseminare, Führungscoaching und Transformation von Führungskulturen. Organisationsentwicklung und Gestaltung von Lernenden Organisationen. Diverse Veröffentlichungen und Vorträge.

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