Die Steigerung der Bewusstheit in Entwicklungsprozessen

Um eine Organisation in ihrer Lebendigkeit zu erfassen ist eine besondere Bewusstseinsqualität notwendig. Diese kann durch Schulung entwickelt und mittels Kurzinterventionen gestärkt werden.

Die Komplexität der Wirklichkeit nimmt stufenweise zu von der Materie über das Lebendige bis hin zum Sozialen, welches den höchsten Komplexitätsgrad aufweist. Das Denken in Zusammenhängen und Prozessen, welches dem Sozialen angemessen wäre, unterscheidet sich erheblich vom materialistischen Verstandesdenken unserer Zeit. Das wurde immer wieder kritisiert, wie z.B. in Max Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“ oder in Erich Fromms „Haben oder Sein“. Und es wurden immer wieder Alternativen angeregt, wie Rudolf Steiners „lebendiges Denken“ oder Jean Gebsers „integrale Bewusstheit“.  Im Feld der Organisationsgestaltung haben solche Bewusstseinsmodelle durchaus Einzug gehalten, eben weil sie der Komplexität und Prozesshaftigkeit von Organisationen eher gerecht werden.

Individuelle Übungen zur Entwicklung der Aufmerksamkeit

In der Gegenstandskonzentration wird ein Alltagsgegenstand (Bleistift, Löffel, Schnürsenkel) einige Minuten lang mit hoher Aufmerksamkeit betrachtet, zum Beispiel eine Büroklammer. Bei der ersten Betrachtung ist ihr Begriff noch wenig lebendig. Wird ihre Entstehung und ihre Funktion genauer untersucht, so belebt sich ihr Begriff. Ein genialer Mensch hatte vor rund 130 Jahren die Idee einen einfachen Draht so zu biegen, dass dieser seither weltweit wunderbare Dienste leistet. Der Materialaufwand ist gering, die Verarbeitung einfach und der Nutzen hoch. Der selbe Gegenstand wird nach einer solchen Übung deutlich komplexer wahrgenommen und zeigt sich als kleines Wunder unserer Kultur, weil sein Begriff innerlich belebt wurde.

Eine komplexere Übung ist die sogenannte Samenkorn-Übung. Der Same hat eine Kraft in sich, die bei Kontakt mit den Elementen das Korn aufbricht, einen Keim bildet, und dann sukzessive eine differenziert ausgebildete Pflanze hervorbringt. Diese Pflanze verändert sich im Jahreszyklus, wächst und bildet neue Samen, alles ganz gemäß der Kraft, die als Potential im Samen angelegt ist.

Die Kraft ist schon im Samen da, als wirkende Kraft, aber unsere Aufmerksamkeit ist noch zu schwach, um diese Wirklichkeit zu erfassen. Durch fortgesetztes Üben machen wir unsere Aufmerksamkeit stärker und sensibler zugleich, sodass sie zunehmend auch die Lebendigkeit eines Samens „wahrnehmen“ kann.

Im Sinne des Konstruktivismus ist eben jede Wahrnehmung schon eine vorbewusste geistige Einordnung (Begriff) von Sinnesdaten. Im Sinne einer lebenspraktischen, ganzheitlichen Vernunft sind diese Konstruktionen nicht nur subjektiv, sondern können der Wahrheit näher sein als jene des Alltagsverstandes.

Solche Übungen müssen meist über eine längere Zeit wiederholt werden, bis sie Früchte tragen. Letztlich befähigen sie uns die Wirklichkeit nicht nur äußerlich-gegenständlich wahrzunehmen, sondern auch systemisch-komplex und lebendig-prozessual.

Natürlich erzieht uns das Leben selbst auch zu diesen Fähigkeiten, wenn wir die Gelegenheit dazu nutzen. Menschen, die sich freiwillig darin schulen, erschließen sich die erweiterte Bewusstheit allerdings deutlich schneller. Für Beratung und Management stellt die geschulte Aufmerksamkeit letztlich eine grundlegende Schlüsselkompetenz dar. Sie ist nach William James „die eigentliche Wurzel von Urteilskraft, Charakter und Wille.“ Der diagnostische Blick wird dadurch erweitert und die Ideen für Interventionen können aus der inneren Dynamik der Organisation heraus entwickelt werden. Wenn Beteiligte oder ich selbst aus dieser gesteigerten Urteilskraft heraus Erkenntnisse und Vorschläge einbringen, reagiert die Gruppe nicht selten wie mit einem Wieder-Erinnern des Eigenen und folgt mit gestärktem Vertrauen dem Prozess.

Gruppenübungen zur Hebung von Aufmerksamkeit und selbstloser Urteilskraft

Damit in Gruppenprozessen effektive Sach- und Handlungsurteile gefällt werden können, ist eine adäquate Atmosphäre notwendig, für die kleine Vorübungen hilfreich sind. Die einfachste davon ist das Spüren der Fußsohlen. Dieses Spüren kann durch Übung immer länger aufrechterhalten und auf den ganzen Körper ausgedehnt werden. Auch Schirennfahrer machen solche Übungen vor dem Start. Ein Mensch, der sich spürt, nimmt umfassender wahr, ist mehr mit seiner Intuition in Kontakt und handelt effektiver.

Ist die Gruppensituation teilweise blockiert oder verspannt, und insbesondere durch aktuelle Streitigkeiten und Konflikte beeinträchtigt, so sind einleitende Schattenübungen hilfreich, kombiniert mit der Fußsohlenübung. In Paaren, am besten mit konträren Partnern, findet ein persönlicher Austausch statt zu einer herausfordernden Frage: „Was habe ich in der letzten Zeit (nicht) getan, was mir aus heutiger Sicht leid tut?“ Danach können Einzelne ihre Statements auch im Plenum aussprechen.

Durch solche Übungen kann sich die Gruppen-Atmosphäre deutlich verbessern. Dies liegt daran, dass der höhere Ich-Anteil oder das Selbst (C.G. Jung) gegenüber der Maske und dem Schatten gestärkt wird. Dadurch wird eine bessere Grundlage für selbstlose und sachgemäße Gruppenurteile sowie für mutige und schöpferische Ideen geschaffen.

(Ursprünglich erschienen in den Trigon Themen 3/22)

Umgang mit „unlösbaren“ Problemen

In emergenten Lern- und Beratungsprozessen ist es empfehlenswert mit den aktuellen Herausforderungen zu arbeiten, wenn man sich traut. Dadurch kann dem Kunden am unmittelbarsten und wirksamsten geholfen werden. Im Rahmen von Führungslehrgängen beispielsweise werden dann gerne „unlösbare“ Fälle vorgebracht, bei denen schon alles mögliche versucht wurde. 

Die Wahrscheinlichkeit, dass hier noch eine neue Perspektive und neuer Mut entsteht, ist nicht hoch. Aber es kann gelingen, im Rahmen einer guten Lernkultur, durch Co-Kreation zu zweit oder in einer Gruppe von Menschen, die sich trauen sich selbst zu sein. Das ist meist der Schlüssel zur Emergenz von neuen Einsichten und Lösungen.

Was aber tun, wenn nichts mehr geht? Wenn Kunden oder Fallbringer sagen, „haben wir schon gemacht, haben wir alles schon probiert, hat auch nicht geholfen, wurde von oben her definitiv ausgeschlossen“ usw.?

Was dann noch bleibt, ist die Möglichkeit des Annehmens der Situation. Das Loslassen vom Verändern-Wollen. Das Problem wird dann zwar nicht verbessert, aber wenigstens meine Einstellung zum Problem wird besser. Einstellungswerte oder Leidenswerte hat Viktor Frankl solche inneren Werterfahrungen genannt, wo es um das Annehmen des Unveränderlichen geht. (V.Frankl, „Ärztliche Seelsorge“ 1965)

Was Viktor Frankl geholfen hat im KZ zu überleben und was Elisabeth Kübler Ross auch als „Veränderungskurve“ im Sterbeprozess beschrieben hat, ist von allgemeiner Bedeutung für die menschliche Motivation. Beide Konzepte zeigen uns, dass im Annehmen eines unveränderlichen Schicksals ein tiefes seelisches Moment und eine unvermutete Kraftquelle liegen kann. Diese Kraftquelle steht auch Mitarbeitern und Führungskräften zur Verfügung, wenn sie vor unlösbaren Problemen stehen. 

Wie gehen wir als Berater methodisch vor? Am Anfang steht immer der Versuch etwas zu ändern. Das „Change it“. Geht da nichts mehr, auch nach mehreren Versuchen, bleiben noch zwei Optionen: Das Annehmen, manchmal auch „Love it“ genannt, und das Verlassen der Beziehung, des Projekts oder der Organisation. („Leave it“).

Insbesondere die Perspektive des Leave it kann sehr befreiend wirken. Manchmal wird ein Change it gerade dadurch möglich, dass das Leave it kein Tabu mehr ist. Die Schwäche der eigenen Position kann meist auf einen Faktor zurückgeführt werden, nämlich dass man keine Wahlmöglichkeiten mehr hat. Sobald auch ein Leave it denkbar ist, gewinnen wir eine zweite Wahlmöglichkeit und gehen dann freier und mit neuem Mut an das Change it heran. Daran erkennen wir, welche Kraft in der Wahlfreiheit liegen kann. 

Viktor (der „Siegreiche“) Frankl hat seine letzte Wahlmöglichkeit im KZ, nämlich morgens liegen zu bleiben – und damit den sicheren Tod zu wählen – als entscheidende Kraftquelle für sein Überleben beschrieben. Ein Mensch ohne Wahlmöglichkeit verliert seine letzte Würde und damit seine letzte Kraft. In scheinbar ausweglosen Coachingsituationen ist deshalb als erstes ein Plan B zur jetzigen Situation zu suchen.

Doch die höchste Diziplin der Selbstmotivation dürfte allerdings im bewussten Annehmen eines Problems liegen. Viktor Frankl beschreibt sie als dritte Möglichkeit der Werterfahrung, neben dem schöpferischen Einwirken auf die Welt und dem Erleben, Erfahren und Genießen der Welt. 

„Denn das Leben erweist sich grundsätzlich auch dann noch als sinnvoll, wenn es weder schöpferisch fruchtbar noch reich an Erleben ist. … Denn wie der Mensch sich zu seinem unabänderlichen Schicksal einstellt, darauf kommt es hier an. … Mögen die Möglichkeiten und der Wertverwirklichung noch so eingeschränkt sein – Einstellungswerte zu verwirklichen, bleibt noch immer möglich.“ (Viktor Frankl, Ärtzliche Seelsorge 1965)

Für Frankl ist die bewusste Einstellungs-Wahl der Schlüssel zu einem bewussten, freien und verantwortlichen Leben. (vgl. seinen Inspirator Max Scheler „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ 1928) Hier salopp von „Love it“ zu sprechen, klingt zunächst etwas oberflächlich. Dahinter steckt allerdings eine subtilere Form der Liebe, die uns meist solange verborgen bleibt, bis wir durch eine solche Schicksalsprüfung gehen mussten. Jedenfalls wäre es vermessen, das „Love it“ mit Resignation zu verwechseln.

Eine Konsequenz solcher Entschiedenheit angesichts unlösbarer Probleme ist, dass der Zustand des Jammerns keine Perspektive mehr bietet. Kurzfristig müssen wir uns mürrische oder resignative Phasen wohl gestatten. Allerdings nur eine begrenzte Zeit, finde ich.

Solche Phasen mögen kurzfristig notwendig und gesund sein, um einen Transformationsprozess einzuleiten. Auf Dauer allerdings dürfen wir erwarten, dass sich die Emotion ins Bewusstsein hocharbeitet und eine innere Entschiedenheit an die Stelle des Jammerns und Leidens tritt. Das verlange ich von mir selbst und auch von anderen Menschen. Wer dauerhaft im Jammern hängenbleibt, ist in einem Entscheidungsprozess stecken geblieben und darf irgendwann auch aufgefordert werden, diesen zu Ende zu führen: Love it, leave it or change it.

Vertiefung: 

Viktor Frank, „Trotzdem Ja zum leben sagen“ 1946 (KZ Erfahrungen). „Ärztliche Seelsorge“ 1965 (Hilfen für Berater und Therapeuten)

Max Scheler, „Die Stellung des Menschen im Kosmos.“ 1928 Die menschliche Person kann auch über sich selbst, als Lebewesen stehen, und Einstellung beziehen.

Reinhard Sprenger, „Die Entscheidung liegt bei dir – Wege aus der alltäglichen Unzufriedenheit“ 1997. Über das love it, leave it oder change it.

Veränderungskurve nach Elisabeth Kübler-Ross in Chance Prozessen: Fritz Führungskreise:  https://www.fritz.tips/veraenderungskurve-nach-kuebler-ross/

Emergenz in der Beratung

Emergente Beratungsprozesse überraschen in jeder Phase mit Einsichten und Lösungen, die nicht vorhersehbar waren. Dafür braucht es neue Formen der Beauftragung sowie besondere Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater.

Der Begriff Emergenz bezeichnet in einem System das Auftauchen von Ereignissen. Beispiele sind das Verhalten von Schwärmen und Netzwerken, Verkehrstaus etwa, oder gesellschaftliche Ereignisse wie der Mauerfall und die Lautverschiebungen in einer Sprache.
Emergente Phänomene sind nicht bewusst geplant und gesteuert. Sie ergeben sich zwar aus dem Zusammenspiel der Elemente, sind aber nicht auf einzelne Verursacher rückführbar. In sozialen Systemen gibt es immer Denk- und Handlungsweisen, die nicht bewusst eingebracht wurden, sondern emergieren. Doch das Thema ist nicht ganz neu.

Klangfigur nach Ernst Chladni (1756-1827):
Sand ordnet sich auf einer Metallplatte, mittels Geigenbogen angestrichen

Henry Mintzberg hinterfragte schon 1978 rational geplante Strategieprozesse und stellte diesen emergente Strategien gegenüber, die plötzlich auftauchen und dennoch realisiert werden. (1)

Und schon 1903 hatte Emile Durkheim die Emergenz gar zum zentralen Thema der Sozialwissenschaften erklärt. Durkheim stellte fest, dass Normen, Werte und Ziele in Gesellschaften oft nicht durch Veranlassung einzelner Akteure zustande kommen, sondern aus dem Zusammenspiel emergieren. (2) Emergenz ist also einerseits eine Selbstverständlichkeit, mit der alle unsere Lern- und Entwicklungsbestrebungen in Organisationen durchsetzt sind. In jedem Beratungsgespräch emergieren z.B. neue Einsichten und Willensimpulse, die nicht vorhersehbar sind. Für längere Entwicklungsprozesse hingegen ist Emergenz noch eine Herausforderung. In jeder Phase können neue Einsichten auftauchen, nicht nur in der Diagnosephase. Und neue Ziele und Handlungsmöglichkeiten emergieren ebenfalls jederzeit, nicht nur in Zukunftsgestaltungsprozessen. Diese schwer planbaren aber relevanten Ereignisse verlangen dann eine flexible Umgestaltung des Gesamtprozesses. Soll der Entwicklungsprozess kreativ und wirklichkeitsorientiert sein, muss er bildsam bleiben.

Ein Beispiel: In einem global tätigen Interessensverband wurde ein Jahr lang über die Neuausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit nachgedacht. Experten wurden eingeladen, die Attraktivität der Wort-Bild-Marke wurde überprüft, drei Szenarien standen letztlich zur Wahl. Bei der Letztentscheidung sollten die unterschiedlichen Positionen und die aufkommenden sozialen Spannungen in einem gemeinsamen Commitment zusammengeführt werden. Während dieses letzten Entscheidungsprozesses emergierte die alles verändernde Einsicht, dass die sinkende Markenattraktivität, aber auch die  unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen ihre tiefere Ursache darin hatten, dass in der Organisation eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Leistungsprozessen bestand, was bei der Erstdiagnose nicht ins Bewusstsein gekommen war. Die Leistungsprozesse waren zu wenig auf den Zweck (Purpose) des Verbandes ausgerichtet. Also wurde das Thema dieser letzten Phase geändert und die künftigen Leistungsprozesse konnten schnell und klar skizziert werden. Die Folge war nur, dass nun die Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr zentral war. Der Entwicklungsprozess verlagerte sich nach einem Jahr weg vom Marketing hin zu den Leistungsprozessen.

Besonders in unserer Zeit, in der Dynamik und Komplexität, aber auch Fragilität und  Disruption eine so große Rolle spielen, könnten Entwicklungsprozesse konsequenter auf Emergenz ausgerichtet werden. Eine Hürde dafür ist die berechtigte Erwartung der Kunden, dass Entwicklungsprozesse vorhersehbar und kalkulierbar sind. Doch emergente Prozesse können sich sowohl unversehens verkürzen als auch verlängern, wenn sie auf weitere Bereiche und Themen ausgedehnt oder verlagert werden. Emergente Beratung verlangt deshalb bildsame Anbahnungs- und Designprozesse, die freilassend gemeinsam mit den Kunden gestaltet werden.

Folgende drei Merkmale solcher Anbahnungs- und Designprozesse können zunehmend beobachtet werden: Erstens werden mehr die Intentionen, Bedürfnisse und Potenziale der Kunden fokussiert als fixe Zielvorstellungen, damit auch das Überraschende Platz haben kann. Zweitens sind generative, Ergebnis- offene  Gruppendialoge eine zentrale Methode des Entwicklungsprozesses. In solchen Dialogen können Einsichten und Willensimpulse emergieren, die weder
für den Auftraggeber noch für Beraterinnen und Berater vorhersehbar waren. Und drittens muss den Kunden ehrlich gesagt werden, dass eine laufende flexible Umplanung des Prozesses die geeignetste Form der gemeinsamen Steuerung ist.

Zu den Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater zählt erstens, dass sie Vertrauensbeziehungen zu Kunden aufbauen können, die über das übliche Maß hinausgehen und an die Stelle des sicheren Halts durch einen vorgefassten Plan treten. Zweitens, die Fähigkeit emergente Dialogatmosphären zu schaffen, in denen sich die betroffenen Menschen schnell öffnen und ehrlich aussprechen.

Weiters gehört daran erinnert, dass die beratende Person jene ist, die am schnellsten und am meisten lernen muss und mit dem eigenem Nichtwissen konstruktiv umgehen können muss. Jegliches Überspielen von ohnehin unvermeidlicher Unsicherheit, jegliches Vorspiegeln von angelerntem Scheinwissen untergräbt die notwendige Ehrlichkeit und das notwendige Vertrauen. Und viertens muss von Beratern die Fähigkeit verlangt werden, sich gemeinsam mit den Kunden bei der Prozesssteuerung überraschen zu lassen, ins Offene zu treten und wiederholt umzuplanen.

1 Mintzberg, H.: Patterns in Strategy Formation, Mai 1978; Management Science, Vol 24, No. 9, S. 934-948. Zit nach http://www.wirtschaftslexikon24.com „Emergente Strategien“.
2 Durkheim, E.: Erziehung, Moral und Gesellschaft (1903), stw 487 1984, Seite 94 ff.

ursprünglich erschienen in Trigon Themen 3/2021 (mit Bildern)

Agile Kultur und spielendes Gelingen

Das Überhandnehmen des Unberechenbaren nötigt uns zu einer spielerischen Haltung in Management und Organisationsentwicklung.

Herbert Salzmann, Trigon Entwicklungsberatung

Wie viele unfertige Entwicklungsprozesse muss eine Organisation noch starten, um endgültig dort anzukommen, wo das Chaos endet und das Leben beginnt? Die permanente Revolution ist zur Normalität geworden, der Veränderungsprozess zur Alltagsarbeit. Die beste Reaktion darauf? Das Leben anzunehmen anstatt es als Chaos zu diskreditieren, und die eigenen fixen Vorstellungen loszulassen anstatt sie zum Maßstab aller Dinge zu machen. Dann ist das Leben das Leben und nicht mehr ein Chaos.

„Life is, what happens to you, while you are busy making other plans“, wie John Lennon einmal sagte. Wir werden von der Wirklichkeit gezwungen, die einseitige Macherhaltung aufzugeben und durch eine lebensfreundliche Haltung zu ersetzen, die neben allen Initiativen und Formimpulsen immer auch eine Offenheit für die Überraschungen des Lebens zeigt. Wenn diese Haltung, philosophisch „Spiel“ genannt, von genug Menschen geteilt wird, können wir von einer agilen Kultur sprechen.

Erweiterung des rationalen Ichs

Grundlegend für eine solche Kultur ist zunächst ein bewusster Umgang mit dem Ego, von Laloux „Ganzheit“ genannt. Das Bewusstsein dafür kann nicht aus diesem Ego selbst kommen, dem rationalen, sauberen und wohlinszenierten Alltags-Ich. Das Bewusstsein in einer agilen Kultur kommt aus einer tieferen Schicht, manchmal das Selbst genannt, zu dem wir erst durchstoßen, wenn wir dem alltäglichen Ich in seiner Begrenztheit und Mangelhaftigkeit ins Auge schauen können und seine scheinbare Sicherheit aufgeben.

Dieses kleine Ich ist soziologisch betrachtet eine Inszenierung, die in unserer unberechenbaren Arbeitswelt immer brüchiger wird. Der Schatten, das Scheitern und die zeitweilige Ratlosigkeit drängen herein und wollen angenommen werden. Menschen, die damit ein großes Problem haben, werden es in agilen Kulturen schwer aushalten.

Francis Bacon Atelier 3

Atelier Francis Bacon, Dublin (Foto: HS)

So ist agile Selbstführung nicht denkbar, ohne Lern- und Feedbackprozesse im Team, die uns auf unsere Unbewusstheiten aufmerksam machen. Unvollkommenheit und Ratlosigkeit sind in der agilen Welt unsere ständigen Begleiter.

Wir haben gar keine andere Wahl, als mit unserem Nichtwissen die Unterstützung von anderen zu suchen. Keine Erfahrung und keine Professionalität kann es uns ersparen. Wesentliche Erkenntnisse und Entscheidungen emergieren in ko-kreativen Prozessen, das Experiment tritt an die Stelle des Plans, und das Spüren an die Stelle der konsequent verfolgten Strategie (Laloux 2015).

Disruption und agile Selbststeuerung

Und vielleicht ist das gar nicht revolutionär, sondern eher höchste Zeit? Nehmen wir das Beispiel einer Organisation aus der Flüchtlingshilfe. Wie aus dem Nichts sind plötzlich tausende Menschen da. Die Mitarbeiterzahl wird vervielfacht, Standorte schießen aus dem Boden, schnelle Karrieren sind notwendig, Prozesse und Strukturen sind unklar. Und bevor die Hoffnung auf Konsolidierung überhaupt aufkommen kann, kommt die Kehrtwende, Menschen werden entlassen, Standorte geschlossen, Leistungen reduziert.

Es könnte sein, dass wir im Zuge der weiteren Digitalisierung mit ähnlich tiefgreifenden Veränderungen zu rechnen haben, zum Beispiel bei Banken, Medien, in Bildungsprozessen, in der Mobilität oder im Handel. Jedenfalls werden sich agile Kulturen in der künftigen Welt besser bewähren, als zentral gesteuerte. Denn Aufmerksamkeit, Vernetzung und Eigeninitiative an jeder Stelle des Systems sind der zentralen Planung und Steuerung deutlich überlegen.

Agile Entwicklungsbegleitung

Aber auch Beraterinnen und Berater müssen sich fragen, wo und inwieweit vorhersehbare Entwicklungsprozesse noch möglich sind. Das Repertoire der OE-Arbeit ist immer mehr in die Hände des Managements selbst übergegangen, was ja bei Trigon-Beratungen durchaus intendiert ist. Und das Management zählt zunehmend auch Entwicklung zu seiner genuinen Aufgabe. Dafür sind wir auch gerne Fortbildner und externe Begleiter, jedoch wird von uns zunehmend erwartet, jene Prozesse zu gestalten, für die sich das Management mit seinem OE-Knowhow nicht mehr zuständig sieht, also emergente Ko-Kreationen und substanzielle Dialoge, die das implizite Wissen bergen.

Ein Grundsatz der Beratung von Edgar Schein wird in diesem Zusammenhang immer wichtiger: „Nutze dein Nichtwissen“, und tritt mit den Kunden in einen ergebnisoffenen Lernprozess ein, in dem du selbst ein Lernender bist. Als Beispiel sei ein Krankenhaus genannt, in dem die agile Selbststeuerung schon weit gediehen ist. Verschiedene Bereiche arbeiten auch selbstgesteuert an ihrer Weiterentwicklung. Als Berater sind wir wiederholt vor Ort und jede Gruppe kann sich ein Zeitfenster reservieren. Was genau das Problem ist, und was die nächsten hilfreichen Schritte dafür sind, wird erst vor Ort in Dialogen sichtbar, in denen die unterschiedlichen Sichtweisen zusammenspielen und sich in ko-kreativen Erkenntnissen und Entscheidungen verdichten. So wird der Beratungsprozess zu einem sehr lebendigen und überraschenden, für Kunden und Berater gleichermaßen.

Vom spielenden Gelingen

Um solche Nichtvorhersehbarkeit wirklich innerlich annehmen zu können, müssen wir die Kreativität im Alltag neu entdecken und im besten Sinne wieder „spielen“ lernen. Mit Spiel bezeichnete Friedrich Schiller eine Haltung, die permanent zwischen eingreifender Formung und Empfänglichkeit für das Leben balancierend schwingt. Die einseitige Betonung des Form- oder Macher-Pols ist der Ursprung jeder Gewalt, doch „nichts was wir erzwingen, hat Bestand“, wie Jean Gebser, der Pionier der integralen Bewusstheit sagt. (Gebser 1959) Das Ungleichgewicht auf der anderen Seite, dem Lebens-Pol, würde hingegen ins Chaos führen. Nur das Balancieren beider Kräfte ermöglicht spielerisches Gelingen.

„Ringelspiel“ von Hugo Imfeld (Foto: HS): Das physische Übergewicht der Erwachsenen wird durch das seelische Übergewicht des spielerischen Kindes balanciert.

Unsere westliche Kultur war zuletzt sicher mehr dem Formpol verschrieben und eine Öffnung gegenüber allem Zufälligen, Überraschenden und Unvorhersehbaren dürfte wieder mehr Freude und Menschlichkeit in die Unternehmen bringen. Letztlich fußt diese Öffnung, wie auch Laloux betont, auf einem neuen Urvertrauen in die Welt, besonders bei der jüngeren Generation. Im Spiel wird diese vertrauensvolle Empfänglichkeit mit der verantwortungsvollen Gestaltung balanciert.

Literatur:

Laloux F. (2015) Reinventing Organisations.

Gebser J. (1961) Vom spielenden Gelingen.

Erschienen als print in den „Trigon Themen 1/2018 Agilität und Kultur“ https://www.trigon.at

Tieferes Selbst und Transformational Leadership

Die letzten Jahrzehnte der Führungs- und Entwicklungslehren waren eindeutig dominiert von systemischen Theorien, die zugleich eine Abkehr von „Great-Man“-Theorien und anderen zu simplen Individualitätskonstruktionen bedeuteten. Zugleich kann dieser Paradigmenwechsel auch als Umschwung in der philosophischen Grundfrage interpretiert werden, ob das Sein (der Umstände) das Bewusstsein der Menschen bestimmt, oder ob das Bewusstsein (Einzelner) auch das Sein verändern kann.

Dass nach dem kollektiven Trauma des Nationalsozialismus und dessen autoritären Ausläufern in den Nachkriegsjahren das Pendel zugunsten des Systemischen umschlagen musste, ist historisch verständlich und war ein überfälliger Entwicklungsschritt. In der Praxis der Unternehmensführung allerdings wurde immer auch an der Wirkung einzelner herausragender Personen auf das System festgehalten, wenn auch nicht sehr plausibel theoretisch untermauert.

Mit dem Konzept des „Transformational Leadership“ (vgl. Bass, 2006) bekamen nun im neuen Jahrtausend die Vertreter dieses Individualismus fundierten Rückenwind. Bei dieser Theorie geht es um die „einstellungsverändernde Wirkung“ von Personen in ihrem Umfeld, ohne dabei allerdings in einen heroischen Duktus zu verfallen. Heroisch-narzisstische Ansätze gab es ja seit jeher und es ließen sich immer gute Beratungsgeschäfte damit machen, weil sie den Auftraggebern mit Sätzen schmeichelten, wie „Wenn du ein Schiff bauen willst, lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten Meer“ (der großartige Saint Exupery verzeihe mir). Theoretisch konnten diese Ansätze aber nicht wirklich überzeugen, weil sie eben mehr auf Beliebtheit denn auf Glaubwürdigkeit bauten.

Nicht so die Theorie des „Transformational Leadership“, die von Forschern um Bernard Bass, dem Herausgeber des monströsen wissenschaftlichen Standardwerkes „The Bass Handbook of Leadership“ soliden empirischen Prüfungen unterzogen wurde. Im Wirkungsbereich von Menschen, die in ihrem Führungsverhalten vier zentrale Kompetenzen zeigen, sind eindeutige Bestwerte bezüglich Leistung, Entwicklung und Motivation festzustellen. Die vier Kompetenzen sind, erstens das Wirken durch eine glaubwürdige Moral und Persönlichkeit (idealized influence), das Begeistern durch positive Zukunftsbilder (inspirational motivation), das Knüpfen von echten individuellen Beziehungen (individual consideration) und das Unterstützen durch Methodik und Zutrauen (intellectual stimulation).

Zumindest den ersten dreien liegt meines Erachtens ein Persönlichkeitsbild zu Grunde, das von Sokrates bis Viktor Frankl immer wieder aufgezeigt wurde, das aber bis heute nicht wirklich populär ist. Nämlich die Theorie von einem tieferen Selbst (C.G.Jung), in das wir zumindest in besonderen Momenten hineinfinden, die Maslow „Peak-Experiences“ nannte, oder Czikszentmihalyi „Flow-Erlebnisse“. In diesen Momenten sind wir tiefer in uns selbst und zugleich in der Welt verankert, wodurch besondere Erkenntnissen und Leistungen möglich werden.

Durch dieses Wirken aus dem tieferen Selbst vermitteln Führungskräfte Zuversicht, Vertrauen und Begeisterung. Dieses Selbst ist die Quelle echter Moral und echter Innovation, jenseits von internalisierten Konventionen und oberflächlicher Anpassung.

Steve Jobs z.B. hatte wider jede Vernunft von Technikern verlangt, dass auch unsichtbare Teile im Computer schön zu sein hätten. Aber der Erfolg gab ihm Recht, und der hatte seiner Meinung nach durchaus auf Intuitionen aus dem tieferen Selbst zu tun: „Die Intuition ist ein sehr mächtiges Instrument, meines Erachtens viel mächtiger als der Intellekt. Dies hat bis heute einen großen Einfluss auf meine Arbeit. (…) Der Geist arbeitet langsamer und man erkennt eine enorme Weite im Augenblick. Man sieht so viel, was man bereits hätte sehen können. Das ist eine Disziplin, in der man sich üben muss.“ (zit.nach W.Isaacson „Steve Jobs“, 2011)

Mit verantwortlich für die geringe Bekanntheit eines tieferen Selbstes jenseits des alltägliche Ichs ist dessen esoterische Aufladung. Dabei handelt es sich um – wenn auch subtile – Alltagserfahrungen, die jeder Mensch kennt und die durch einfache Übungen verstärkt werden können. So empfehle ich gerne in wichtigen Gesprächen die eigenen Fußsohlen zu spüren, um die Aufmerksamkeit über den Tastsinn in den eigenen Körper und damit auch näher an die eigene Seele zu lenken. Dadurch werden seelische Impulse und Automatismen wahrnehmbar und steuerbar, denen wir sonst ausgeliefert sind.

Diese schwebende Aufmerksamkeit, die das eigene Seelenleben beim Handeln begleitet, kann als Ansatzpunkt für das tiefere Selbst bezeichnet werden. Sie vermag die affektive Abfolge unserer Reiz-Reaktionsmuster zu unterbrechen, und eröffnet Freiheitsmomente, in denen wir entscheiden können, ob wir einem Impuls nachgeben wollen oder ob wir andere Handlungen für zielführender halten. Unsere moralischen Überzeugungen können dadurch in Form von Taten sichtbar werden, was zum Image einer „geachteten Persönlichkeit“ beitragen kann. (idealized influence).

Ein anderer wichtiger Aspekt dieser bewussten Verbundenheit mit der eigenen Seele ist, dass wir empfänglicher für die Signale aus unserem „somatic consciousness“ sind, wie es der Hypnotherapeut Stephen Gilligan formuliert. Wir wissen dann, was richtig und hilfreich ist und die Leidenschaftlichkeit und Zuversicht solcher Lösungsperspektiven können auch andere begeistern. (inspirational motivation).

Und drittens können wir mit selbstzentrierten Menschen leichter in Beziehung treten, weil sie mehr als nur Maske und Rolle sind. Oft strahlen sie eine fast unbegründete Freude aus und eine bejahende Haltung gegenüber jedem, die auch allgemeine Menschenliebe genannt werden kann. (individual consideration)

Um den Kreis zum Systemischen wieder zu schließen sei betont, dass diese Wirkungen des tieferen Selbst keineswegs nur auf Führungskräfte beschränkt sind. Im Gegenteil, „oft offenbart der Herr einem jüngeren Bruder, was das beste ist“, wie eine Bendiktinerregel besagt, weshalb der Abt die Gemeinschaft vor Entscheidungen zusammenrufen sollte. In diesem Sinne sorgt die neuere transformationale Führung auch durch Systemgestaltung dafür, dass in der gesamten Organisation geachtete Persönlichkeiten arbeiten, Raum für Inspiration da ist und jeder einzelne Mensch geschätzt wird.

Bass, Bernard u.a.: „Transformational Leadership“ 2006 (englisch)

Isaacson, Walter: „Steve Jobs“ 2011

Gilligan, Stephen: „Generative Trance – das Erleben kreativen Flows“ 2014.

Mehr dazu in meinen Seminaren „Transformational Leadership“ und „Inspirational Leadership“, der erweitereten Fassung davon: www.trigon.at (im Suchfenster „Herbert Salzmann“ eingeben)