Emergente Beratung als Alternative zur OE / Minimal invasive Beratung (EB 1)

„Ich schreibe, damit ich weiss, was ich denke.“ (Susan Sontag)

Die Prozess- oder Entwicklungsberatung, die mit den betroffenen Menschen an der Verbesserung der Organisation arbeitet, kennt zwei grundlegende Methoden, erstens die Organisationsentwicklung und zweitens die Prozessberatung im engeren Sinne, hier „emergente Beratung“ genannt.

Organisationsentwicklung vollzieht sich in einem längeren und breit angelegten Prozess mit hoher Partizipation. Dabei werden verschiedene Teilbereiche der Organisation überprüft und weiterentwickelt. Das ganzheitliche Trigon-Modell beschreibt etwa ein kulturelles, ein soziales und eine technisch-materielles Subsystem der Organisation, in Analogie zu Geist, Seele und Körper, bzw. zu Denken, Fühlen und Wollen, und ist damit zu einem ganzheitlichen Branchenstandard geworden.

Die Subsysteme und deren Elemente (Strategien, Strukturen, Prozesse usw.) werden in partizipativen Lernprozessen diagnostiziert und weiterentwickelt, sodass die Organisation sich am Ende einer Verbesserung in allen Bereichen unterzogen haben kann. Identität, Werte, Strategien und Ziele sollten klarer sein und mit höherem Commitment verfolgt werden. Zusammenarbeit, Kommunikation und Führung sollten menschlicher und effektiver sein, Strukturen und Funktionen besser geklärt und abgestimmt und die Arbeitsprozesse sollten effizienter ablaufen.

Diese Form der Beratung hat den Vorteil, dass sie nicht nur aktuelle Probleme löst und Teilverbesserungen anstrebt, sondern den gesamten systemischen Zusammenhang verbessert. Wie oft und wie weit diese OE-Projekte wirklich erfolgreich sind, kann schwer pauschal gesagt werden. Durch OE-Projekte wurden jedenfalls immer wieder entscheidende Verbesserungen in Organisationen erreicht, das soziale Miteinander wird gestärkt und neue Fähigkeiten ins System eingebracht. Bei Trigon blicken wir auf eine anständige Erfolgsgeschichte dieser klassischen OE zurück. Natürlich hört man auch von gescheiterten Projekten, was aber vor allem an wenig erfahrenen Beratern liegt.

Im Unterschied zu dieser klassischen OE gibt es aber schon lange eine schlichtere Form der Prozessberatung, die der Sozialpsychologe Edgar Schein 1969 „process consultation“ nannte. Auch diese Form der Beratung kann zu einer Methode für systematische Verbesserungen in der gesamten Organisation weiterentwickelt werden. Diese emergente Form der Prozessberatung geht weniger von einer geplanten Systematik aus, sondern setzt zunächst bei den aktuellen Problemen an, um dann Schritt für Schritt ebenfalls die Funktionalität des gesamten Systems zu verbessern. Allerdings ist die Kenntnis der klassischen OE wohl eine Voraussetzung dafür, denn deren Systematik bietet einen sinnvollen impliziten Orientierungsrahmen auch für das emergente Vorgehen.

Minimal invasive Beratung

Heute (2024) sind wir als Berater mehr denn je angehalten, Beratungsprozesse „minimal invasiv“ anzulegen, da die zeitlichen Ressourcen nochmals knapper geworden sind als vor der nachhaltigen Disruption durch die weltweiten Lockdowns. Die Metapher „minimal invasiv“ habe ich von einer neueren chirurgischen Methode entlehnt, die möglichst wenig Verletzungen beim Zugang zur eigentlichen Operation verursacht, unter anderem indem sie bestehende Gefäße nutzt. Aktuell sind die Zeitressourcen in vielen Organisationen sehr begrenzt und es besteht wenig Bereitschaft für zeitintensive Entwicklungsprozesse.

Emergente Beratungsprozesse können in solchen Fällen minimal invasiv angelegt werden, um ausgehend von aktuellen Problemen die Funktionalität des sozialen Organismus zu verbessern, ohne viele zusätzlichen Ressourcen zu strapazieren. So kann versucht werden bestehende Meetings und Gremien zu nutzen, um systematische Entwicklungen in Gang zu setzten, anstatt zusätzliche Gremien einzurichten und umfangreiche Workshops zu veranstalten.

Die Führungskräfte nehmen den Entwicklungsprozess selbst verstärkt in die Hand, wie es meist am Papier ohnehin schon vorgesehen ist, anstatt neue Funktionen und Gremien für den OE-Prozess einzurichten. Die Steuerung des Entwicklungsprozesses erfolgt im Dialog zwischen verantwortlichen Führungskräften und dem Entwicklungsbegleiter in kurzen Meetings. Dazu sind allerdings nicht viele Berater bereit, weil dies nur lokal geleistet werden kann, allerdings in der Folge dann auch virtuell. Ich ermuntere zudem meine Kunden schon recht bald dazu, auf meine Begleitung fallweise zu verzichten und aus eigenen Kräften den Prozess voranzutreiben. Die Kosten und der Personalaufwand für OE-Prozesse können dadurch erheblich reduziert werden.

Dass die Verantwortlichkeit für den Entwicklungsprozess von Anfang an bei den Führungskräften bleibt, ist allerdings schon einer der Stolpersteine des emergenten Vorgehens. Erlahmt die Initiative der Führungskräfte, bricht der Prozess wieder ab, wenn die brennendsten Probleme gelöst sind und die systematische Verbesserung wird wieder auf die lange Bank geschoben. Das habe ich bei einigen Kunden erlebt. Sie kommen erst wieder, wenn der Hut wieder brennt. In der klassischen OE verhindern längerfristige Planungen und eine erfahrungsgemäß doch recht initiative Rolle der externen Berater solche vorschnellen Abbrüche. Hier kann das emergente Vorgehen noch weiterentwickelt werden.


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Veröffentlicht von

Herbert Salzmann

Gesellschafter der Trigon Entwicklungsberatung, herbert.salzmann.trigon.at. Geb. 1959 in Vorarlberg, Lehre als Vermessungstechniker, 7 Jahre Techniker, daneben Abendgymnasium. Geistes- und sozialwissenschaftliche Studien in Innsbruck und Freiburg. Ab 1990 Ausbildung in Organisationsentwicklung und Managementtraining durch Jack F.Moens / NPI Holland. Beratungserfahrung seit 1990, diverse Weiterbildungen in OE, Coaching und Wirtschaftsmediation. Lehraufträge an der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Führungsseminare, Führungscoaching und Transformation von Führungskulturen. Organisationsentwicklung und Gestaltung von Lernenden Organisationen. Diverse Veröffentlichungen und Vorträge.

Ein Gedanke zu “Emergente Beratung als Alternative zur OE / Minimal invasive Beratung (EB 1)”

  1. Das ultimative Ziel eines OE-Beraters (in) muss es sein, sich so schnell wie möglich ‚entbehrlich‘ (auch überflüssig) zu machen und das beschreibst Du sehr klar lieber Herbert. Erhöhung der Selbstkompetenz als Kernauftrag. Schöne Grüße Konrad

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