Der Nullpunkt des Nichtwissens in emergenten Lernprozessen (EB 3)

Weil ich mit dem vorigen Kapitel „Emergente Beratung ist nicht lehrbar“ etwas Unruhe und krisenhafte Stimmungen ausgelöst habe, möchte ich spontan ein weiteres Kapitel nachschieben, das etwas weiterhelfen kann.

Was ich in diesem Kapitel sagen möchte, gilt einerseits für das Lernen der Kunden im Rahmen eines Beratungsprozesses, andererseits für das Lernen der Beraterinnen und Berater, die sich auf das Abenteuer der emergenten Beratung einlassen wollen. Ich bleibe zunächst beim Lernprozess der Berater und beschreibe einen Nullpunkt, eine Krise, die dabei unvermeidlich ist. Ja, sie ist geradezu der Schlüssel zur Emergenz des echten und lebendigen Wissens. Diese persönliche Krise ist in der Folge auch der Schlüssel zu echten Erkenntnissen und schöpferischen Lösungsideen im Kundensystem.

Eine Kollegin schilderte mir letzthin ihre Krise, die sie nach einer längeren Auszeit bei ihrer Rückkehr nach Europa hatte. „Woher nehme ich das Recht, Organisationen zu helfen? Woher soll ich das Wissen dazu nehmen? Ich habe da ja fast nichts und das ist noch brüchig“ sagte sie mir sinngemäß.

Und ich erinnerte mich an die vielen Momente, wo es mir ähnlich ging, und an die vielen Jahre, wo mich immer wieder dieses selbe Gefühl beschlich. Ich hatte es fälschlicherweise auf mich persönlich bezogen, so wie es jetzt auch meine Kollegin tat. Heute, nach drei Jahrzehnten Erfahrung, trau‘ ich mir zu sagen, nein, das ist nicht deine persönliche Krise. Das ist DIE Krise, die ich jeder Beraterin, jedem Berater wünsche. Denn ohne diese Krise kommst du nicht zum emergenten Wissen. Sie ist quasi der Nullpunkt, durch den du durch musst. Und du weißt nicht, ob du dahinter bestehst. C.G.Jungs Finsternis lässt grüßen, Joseph Campbells Heldenreise, Rudolf Steiners Hüter der Schwelle.

Dieser Nullpunkt ist die Krise zwischen angelerntem Verstandeswissen und schöpferisch produziertem Vernunftwissen. Das Wort Krise kommt von griechisch „trennen, schneiden“. Krise heisst, sich von etwas lösen, nämlich dem angelernten sekundären Wissen, und sich mit etwas neuem verbinden, mit dem emergierenden, immer frisch geborenen Wissen der Vernunft.

Über die Natur dieses Vernunftwissens muss noch gesprochen werden, aber es ist so schwer. Es ist vernommenes Wissen einerseits (Vernunft kommt von Vernehmen), und es ist hervorgebrachtes Wissen zugleich. Es ist geschöpftes Wissen, könnte man sagen. Der Akt des Schöpfens von Wasser ist ja ein fassender, ein Zugreifen und Empfangen zugleich. Das schöpferische Geheimnis steckt darin. Erkennen als Fassen von etwas, das irgendwie schon da ist, aber ohne den Fassenden eben auch nicht.

Keith Jarrett beschreibt es so: „„Man hofft, ein Rendezvous mit Musik zu haben. Man weiß, die Musik ist da, aber dieses Zusammentreffen hängt nicht nur von Wissen ab, sondern von Offenheit.“ Übertragen auf die Beratung heisst das, die Erkenntnisse und kreativen Lösungen sind schon da, die Frage ist nur, ob wir offen genug sind, sie aufzufassen. Und das sind wir nur ohne die vorgefertigten Lösungen.

An dieser Stelle muss an die kurze archetypische Erzählung von Sokrates erinnert werden, die wohl mit gutem Grund am Anfang der europäischen Vernunftgeschichte steht. Kurz gesagt, ein Freund wollte von den Wahrsagerinnen (Pythien) erfahren, was mit diesem Sokrates sei. Und sie sagten, hören wir es genau, „niemand ist weiser als Sokrates“. Als Sokrates dies erfuhr, bezweifelte er diese Wahrsagung, denn er fühlte sich ganz anders, nämlich so wie meine Kollegin, die ich oben erwähnte. „Ich weiss doch nur wenig, und das scheint mir noch unsicher“. Der Skeptiker, das heisst der „Prüfende“, machte sich gleich an die empirische Beobachtung: Politiker wissen auch nichts, denn sie reden den Menschen nur nach dem Mund. Künstler wissen auch fast nichts, denn sie handeln mehr aus dem Bauch als aus dem Wissen. Handwerker können eine Sache gut und meinen deshalb überall Bescheid zu wissen. So sein Befund. Das heisst, auch die anderen wissen nichts oder nur sehr wenig, aber wissen sie es noch nicht.

Niemand ist weiser als der Mensch, der das weiss. Der in diese Krise gerät, der den Mut zum Nullpunkt des Nichtwissens hat, so übereinstimmend die Wahrsagerin Pythia und der vernünftige Sokrates. Das Sekundärwissen und die Verblendung durch dieses verhindert die Vernunft. Das Vorstellungswissen verstellt die Frage, die das unheimliche Tor für neue Entdeckungen und Abenteuer öffnet. Wissen ist letztlich eine Frage des Mutes, wie Immanuel Kant dann sagen wird. „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne eine Anleitung durch Autoritäten“, wird er dann sagen. Auch wenn er das Wort Verstand verwendet, er meint das selbe echte, aus sich selbst geborene Wissen und eben nicht das Angelernte, Mitgebrachte, Aufbewahrte, von Autoritäten zur Verfügung gestellte Sekundärwissen.[1]

Meine Kritik an der konventionellen Organisationsberatung ist insofern nichts neues und nichts spezifisches. Sie könnte genauso die Kritik am konventionellen Lehren in Schulen sein, an konventioneller Medizin, an konventioneller Kindererziehung, an konventionellem Kochen usw. Immer ist es das sekundäre Verstandeswissen, das uns vor Ratlosigkeit und Mutlosigkeit bewahren soll, und das uns gerade dadurch als Zweitklassige in jeder Profession gefangenhält.

Die Krise des Nullpunktes muss im jahrelangen Lernprozess des emergenten Beratens immer wieder erlebt werden. Man muss vertraut werden mit der Unsicherheit dieses Momentes, mit demjenigen, was dann noch Halt gibt, mit demjenigen, was dann zu tun ist. Dieses Wissen kann nicht mehr so einfach weitergegeben werden, wie wir es gerne hätten. Es muss co-kreiert werden aus echten Fragen und aus echter Not heraus. Dieses Lernen umfasst das Erkennen, aber auch die emotionale Gestimmtheit und das Wollen und Handeln des Menschen. Es ist ein ganzheitliches und lebendiges Lernen.

Wenn wir mit diesem krisenhaften Geburtsprozess, mit dieser Geburtskrise vertraut genug geworden sind, können wir es in professioneller Weise auch den Kunden zumuten. Letztlich müssen auch die Kunden immer wieder an diesen Nullpunkt des Nichtwissens herangeführt werden und letztlich kommen auch sie nur so zu den echten Erkenntnissen über sich selbst und zu den echten Lösungsperspektiven. Alles andere ist nur Wissen und Rat von der Stange. Dazu braucht es natürlich eine Fülle von Kompetenzen, die nicht oder kaum lehrbar sind, aber durchaus lernbar. Wie bringst du die Kunden in die Offenheit für Fragen und Entdeckungen? Wie bleibst du als Beraterin oder Berater zentriert, wenn das Kundensystem in Unsicherheit gerät? Woher nimmst du selbst jetzt das Wissen über den weiteren Prozess, wenn du nicht Zuflucht beim Sekundärwissen nehmen willst?


[1] Immanuel Kant, „Was ist Aufklärung“ 1784.

Bild: Andrei Tarkowsky „Der Stalker“, Film 1979.


Entdecke mehr von Herbert Salzmann

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Veröffentlicht von

Herbert Salzmann

Gesellschafter der Trigon Entwicklungsberatung, herbert.salzmann.trigon.at. Geb. 1959 in Vorarlberg, Lehre als Vermessungstechniker, 7 Jahre Techniker, daneben Abendgymnasium. Geistes- und sozialwissenschaftliche Studien in Innsbruck und Freiburg. Ab 1990 Ausbildung in Organisationsentwicklung und Managementtraining durch Jack F.Moens / NPI Holland. Beratungserfahrung seit 1990, diverse Weiterbildungen in OE, Coaching und Wirtschaftsmediation. Lehraufträge an der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Führungsseminare, Führungscoaching und Transformation von Führungskulturen. Organisationsentwicklung und Gestaltung von Lernenden Organisationen. Diverse Veröffentlichungen und Vorträge.