Die Steigerung der Bewusstheit in Entwicklungsprozessen

Um eine Organisation in ihrer Lebendigkeit zu erfassen ist eine besondere Bewusstseinsqualität notwendig. Diese kann durch Schulung entwickelt und mittels Kurzinterventionen gestärkt werden.

Die Komplexität der Wirklichkeit nimmt stufenweise zu von der Materie über das Lebendige bis hin zum Sozialen, welches den höchsten Komplexitätsgrad aufweist. Das Denken in Zusammenhängen und Prozessen, welches dem Sozialen angemessen wäre, unterscheidet sich erheblich vom materialistischen Verstandesdenken unserer Zeit. Das wurde immer wieder kritisiert, wie z.B. in Max Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“ oder in Erich Fromms „Haben oder Sein“. Und es wurden immer wieder Alternativen angeregt, wie Rudolf Steiners „lebendiges Denken“ oder Jean Gebsers „integrale Bewusstheit“.  Im Feld der Organisationsgestaltung haben solche Bewusstseinsmodelle durchaus Einzug gehalten, eben weil sie der Komplexität und Prozesshaftigkeit von Organisationen eher gerecht werden.

Individuelle Übungen zur Entwicklung der Aufmerksamkeit

In der Gegenstandskonzentration wird ein Alltagsgegenstand (Bleistift, Löffel, Schnürsenkel) einige Minuten lang mit hoher Aufmerksamkeit betrachtet, zum Beispiel eine Büroklammer. Bei der ersten Betrachtung ist ihr Begriff noch wenig lebendig. Wird ihre Entstehung und ihre Funktion genauer untersucht, so belebt sich ihr Begriff. Ein genialer Mensch hatte vor rund 130 Jahren die Idee einen einfachen Draht so zu biegen, dass dieser seither weltweit wunderbare Dienste leistet. Der Materialaufwand ist gering, die Verarbeitung einfach und der Nutzen hoch. Der selbe Gegenstand wird nach einer solchen Übung deutlich komplexer wahrgenommen und zeigt sich als kleines Wunder unserer Kultur, weil sein Begriff innerlich belebt wurde.

Eine komplexere Übung ist die sogenannte Samenkorn-Übung. Der Same hat eine Kraft in sich, die bei Kontakt mit den Elementen das Korn aufbricht, einen Keim bildet, und dann sukzessive eine differenziert ausgebildete Pflanze hervorbringt. Diese Pflanze verändert sich im Jahreszyklus, wächst und bildet neue Samen, alles ganz gemäß der Kraft, die als Potential im Samen angelegt ist.

Die Kraft ist schon im Samen da, als wirkende Kraft, aber unsere Aufmerksamkeit ist noch zu schwach, um diese Wirklichkeit zu erfassen. Durch fortgesetztes Üben machen wir unsere Aufmerksamkeit stärker und sensibler zugleich, sodass sie zunehmend auch die Lebendigkeit eines Samens „wahrnehmen“ kann.

Im Sinne des Konstruktivismus ist eben jede Wahrnehmung schon eine vorbewusste geistige Einordnung (Begriff) von Sinnesdaten. Im Sinne einer lebenspraktischen, ganzheitlichen Vernunft sind diese Konstruktionen nicht nur subjektiv, sondern können der Wahrheit näher sein als jene des Alltagsverstandes.

Solche Übungen müssen meist über eine längere Zeit wiederholt werden, bis sie Früchte tragen. Letztlich befähigen sie uns die Wirklichkeit nicht nur äußerlich-gegenständlich wahrzunehmen, sondern auch systemisch-komplex und lebendig-prozessual.

Natürlich erzieht uns das Leben selbst auch zu diesen Fähigkeiten, wenn wir die Gelegenheit dazu nutzen. Menschen, die sich freiwillig darin schulen, erschließen sich die erweiterte Bewusstheit allerdings deutlich schneller. Für Beratung und Management stellt die geschulte Aufmerksamkeit letztlich eine grundlegende Schlüsselkompetenz dar. Sie ist nach William James „die eigentliche Wurzel von Urteilskraft, Charakter und Wille.“ Der diagnostische Blick wird dadurch erweitert und die Ideen für Interventionen können aus der inneren Dynamik der Organisation heraus entwickelt werden. Wenn Beteiligte oder ich selbst aus dieser gesteigerten Urteilskraft heraus Erkenntnisse und Vorschläge einbringen, reagiert die Gruppe nicht selten wie mit einem Wieder-Erinnern des Eigenen und folgt mit gestärktem Vertrauen dem Prozess.

Gruppenübungen zur Hebung von Aufmerksamkeit und selbstloser Urteilskraft

Damit in Gruppenprozessen effektive Sach- und Handlungsurteile gefällt werden können, ist eine adäquate Atmosphäre notwendig, für die kleine Vorübungen hilfreich sind. Die einfachste davon ist das Spüren der Fußsohlen. Dieses Spüren kann durch Übung immer länger aufrechterhalten und auf den ganzen Körper ausgedehnt werden. Auch Schirennfahrer machen solche Übungen vor dem Start. Ein Mensch, der sich spürt, nimmt umfassender wahr, ist mehr mit seiner Intuition in Kontakt und handelt effektiver.

Ist die Gruppensituation teilweise blockiert oder verspannt, und insbesondere durch aktuelle Streitigkeiten und Konflikte beeinträchtigt, so sind einleitende Schattenübungen hilfreich, kombiniert mit der Fußsohlenübung. In Paaren, am besten mit konträren Partnern, findet ein persönlicher Austausch statt zu einer herausfordernden Frage: „Was habe ich in der letzten Zeit (nicht) getan, was mir aus heutiger Sicht leid tut?“ Danach können Einzelne ihre Statements auch im Plenum aussprechen.

Durch solche Übungen kann sich die Gruppen-Atmosphäre deutlich verbessern. Dies liegt daran, dass der höhere Ich-Anteil oder das Selbst (C.G. Jung) gegenüber der Maske und dem Schatten gestärkt wird. Dadurch wird eine bessere Grundlage für selbstlose und sachgemäße Gruppenurteile sowie für mutige und schöpferische Ideen geschaffen.

(Ursprünglich erschienen in den Trigon Themen 3/22)